Im Moment ist alles noch gleich. Die Sonne scheint, die Touristen radeln durch das sommerliche Berlin, der Reichstag ist verwaist. Doch vielleicht ist am Dienstagabend schon alles anders. Denn hinter den Kulissen läuft ein Zerfallsprozess in der SPD ab, wie bei einer unkontrollierten radioaktiven Reaktion. Der politische Gau, der grösste anzunehmende Unfall, wäre, wenn Andrea Nahles am Dienstag die Wahl als Fraktionsvorsitzende verliert.
Wenn sie dann auch vom Amt der Parteivorsitzenden zurücktritt und damit die von ihr favorisierte Grosse Koalition platzt, wäre das auch Angela Merkels Ende. Das würde Neuwahlen im Herbst bedeuten. Und vielleicht wäre dann die Zeit der grossen Volksparteien vorbei, auf jeden Fall für die SPD.
Niemand will den Kopf hinhalten
Aber bis jetzt finden sich keine Herausforderer, die gegen Nahles als Fraktionsvorsitzende antreten wollen. Es könnte also sein, dass Nahles auch ohne Gegenkandidaten keine Mehrheit erhält oder ein solch schlechtes Resultat erzielt, dass sie faktisch gehen müsste. Dieses Szenario sagt alles über den Zustand der SPD und die Chancen einer personellen und inhaltlichen Erneuerung. Vielleicht wird deshalb der Gau noch einmal verschoben.
Denn die Gegner von Nahles wissen, dass im Herbst drei Wahlen in Ostdeutschland anstehen: in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Der SPD drohen drei schlimme Niederlagen. Und wer möchte jetzt die SPD übernehmen, um danach für drei Niederlagen die Verantwortung übernehmen und dann selbst zurücktreten zu müssen? Der linke Flügel wiederum will einen inhaltlichen Kurswechsel, aber erst im Herbst. Die erwartbaren Wahlniederlagen wären das maximale politische Druckmittel.
Schulz beschimpft Parteikollegen
Soweit die politische Logik. Aber die SPD ist zurzeit komplett unberechenbar. Von der gestrigen Fraktionssitzung wird berichtet, der frühere Kanzlerkandidat Martin Schulz, aus gesundheitlichen Gründen hinter einer dunklen Sonnenbrille, habe einen innerparteilichen Kontrahenten als Arschloch betitelt. Und bei den konservativen Sozialdemokraten habe Nahles keine Mehrheit.
So oder so: Stand heute muss man damit rechnen, dass die Grosse Koalition spätestens im Herbst zerbricht und Neuwahlen dann im Frühling 2020 stattfinden. Denn wenn eine Wahl für das Europaparlament in Brüssel und ein Wählervotum im kleinsten Bundesland Bremen die SPD in Berlin an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt, was müssen dann die grossen Landtagswahlen im Herbst im Osten verursachen?