Die Welthandelsorganisation (WTO) hat sich nach zähen Verhandlungen auf ein neues Abkommen geeinigt. Dabei geht es etwa um die Lockerung des Patentschutzes für Covid-Impfstoffe oder um Fischereisubventionen. Die Verantwortlichen feiern das als grossen Erfolg. Kritik kommt dagegen von Nichtregierungs-Organisationen. Achtungserfolg oder verpasste Chance? Manfred Elsig, Professor für internationale Beziehungen am Welthandelsinstitut der Uni Bern, ordnet ein.
SRF News: Ist das Verhandlungsergebnis ein Erfolg, weil man sich überhaupt wieder einmal gefunden hat?
Manfred Elsig: Als Handelsdiplomatin würden Sie das als Erfolg bezeichnen. Sie haben nach nächtelangen Verhandlungen Beschlüsse im Konsensprinzip erarbeitet. Dementsprechend könnte man es als wichtiges Zeichen werten, dass die WTO noch etwas liefern kann. Für NGOs etwa stellt sich dagegen die Frage, ob das ambitiös genug ist. Hier kann man durchaus kritisch sein.
Wo stehen Sie?
Als Wissenschaftler ist man irgendwo in der Mitte. Zum einen versteht man, dass der Multilateralismus solche Tage braucht, in denen 164 Mitgliedsstaaten im Konsensprinzip Beschlüsse fassen. Meistens ist das nicht zu bewerkstelligen. Und es geht in die richtige Richtung – bei Themen wie den Fischereisubventionen oder den Covid-Impfstoffen braucht es Lösungen. Das heisst: Die WTO ist zurück – aber natürlich nicht sehr ambitiös. Die Probleme sind derart gross, dass es noch weitergehen muss.
Im Rahmen der WTO kommen unterschiedliche Staaten mit unterschiedlichen Interessen zusammen. Wer hat den Vereinbarungen besonders den Stempel aufgedrückt?
Indien. Zu Beginn, am Sonntag, zeigte der indische Wirtschaftsminister in allen Bereichen die roten Linien auf. Die ersten drei Tage waren durch viele kritische Stimmen gekennzeichnet. Es stellte sich die Frage, ob man angesichts der unflexiblen Position Indiens überhaupt zu einem Ergebnis kommen kann.
Die Biden-Administration hat in ihren Interessen nicht grosse Unterschiede zur Trump-Administration. Aber natürlich in der Art und Weise, wie sie Handelspolitik betreibt. Es ist ein anderer Ton.
Erst gegen Schluss hat Indien Zugeständnisse gemacht und war in den letzten beiden Tagen und Nächten sehr aktiv. Indien bezeichnete sich als der Vertreter der Entwicklungsländer und sagte, das Verhandlungsergebnis sei sein Erfolg. So extrem würde ich es nicht formulieren. Aber Indien blieb bei seinem Standpunkt und war erst im letzten Moment zu Kompromissen bereit.
Welche Rolle spielte die US-Delegation? Die Amerikaner nehmen historisch betrachtet eine zentrale Rolle beim Freihandel ein. Das hat sich spätestens unter Präsident Donald Trump geändert.
Die Biden-Administration hat in ihren Interessen nicht grosse Unterschiede zur Trump-Administration. Aber natürlich in der Art und Weise, wie sie Handelspolitik betreibt. Es ist ein anderer Ton. Die USA waren zwar auch in Genf, gegenüber anderen Jahren aber nicht mehr im Zentrum der Verhandlungen.
Vor zehn, fünfzehn Jahren lief noch alles über die USA. Sie lösten bilateral Blockaden und wollten andere Länder «zur Vernunft bringen». Nun waren sie im Hintergrund sicher aktiv, aber gehört hat man fast nichts. Das ist überraschend.
Gibt es eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses innerhalb der WTO?
Mehrere Akteure sind aktiv, wir sehen eine plurilaterale Welt. Interessant ist, dass das Thema Russland keine grosse Rolle spielte – viele hatten das befürchtet. Auch die Spannungen zwischen China und den USA kamen nicht wirklich ans Tageslicht. Viele erwarteten, diese Spannungen könnten zu zusätzlichen Komplikationen führen.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.