Ein Erdbeben der Stärke 5.3 hat Tokio erschüttert – einen Tag nach dem Erdbeben der Stärke 7.1 im Südwesten Japans. Erdbebenspezialisten hatten deshalb gewarnt, dass Japan sich auf ein mögliches Mega-Erdbeben im Nankai-Graben vorbereiten müsse. Martin Fritz, freier Journalist in Tokio, ordnet ein.
SRF News: Was war so besonders am gestrigen Erdbeben?
Martin Fritz: Es handelte sich seit längerem um das erste grössere Beben an dieser Plattengrenze vom Nankai-Graben, das stärker als 7.0 auf der Richterskala war. Damit steigt statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit für dieses erwartete grössere Nankai-Beben um ein Vielfaches. Dieser Graben ist 900 Kilometer lang in der Tiefsee und zieht sich an der Südküste der Hauptinsel Honshu bis kurz vor die Hauptstadtregion Tokio.
In den letzten 1300 Jahren gab es dort im Schnitt alle 100 Jahre ein schweres Beben. Das letzte gab es vor rund 80 Jahren. Deshalb schätzen Forscher, dass das nächste Beben mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 bis 80 Prozent in den nächsten 30 Jahren kommt. Das könnte über 200'000 Menschenleben kosten, wenn man sich nicht darauf vorbereitet.
Nun gilt erhöhte Alarmbereitschaft in Japan. Was bedeutet das?
Wenn es am Nankai-Graben zu einem Erdbeben von über 7.0 kommt, dann sehen die Regularien eine Warnung mit einer niedrigen Stufe vor. Die Menschen sollen sich darauf vorbereiten, dass es zu einer Evakuierung kommen könnte.
Man verdrängt die Möglichkeit, dass ein solches Beben das eigene Leben kosten könnte.
Hätte das Beben eine Stufe über acht gehabt, dann müssten bereits jene Menschen evakuiert werden, die nicht mobil sind, zum Beispiel kranke und gehbehinderte Seniorinnen und Senioren.
Wie gehen die Menschen in Japan mit dem Warten auf das grosse Beben um?
Das Warten auf ein grosses Beben ist ein bisschen wie das «Warten auf Godot». Möglicherweise kommt es nie oder viel schwächer als vorhergesagt. Viele Menschen in Japan, auch ich, haben zu Hause Vorräte für ein Erdbeben angelegt. Wer an der Küste lebt, der übt auch regelmässig die Evakuierung im Fall eines Tsunamis.
Ansonsten verdrängt man die Möglichkeit, dass ein solches Beben das eigene Leben kosten könnte. Das Stichwort «Nankai-Beben» taucht im Prinzip jedes Jahr irgendwann in den Schlagzeilen auf. Da gibt es auch einen Abstumpfungseffekt.
Wie ist Japan in den gefährdeten Gebieten nach einem grossen Beben auf Tsunamis gerüstet?
Eine Lehre vom grossen Beben 2011 mit dem Mega-Tsunami in Tohoku und der Atomkatastrophe in Fukushima war, dass der Tsunami gefährlicher ist als das Beben selbst. Ein Grossteil der Häuser in Japan ist relativ erdbebensicher gebaut.
Aber beim Tsunami kommt es darauf an, sich möglichst schnell von der Küste auf höheren Grund zu begeben. An vielen Küsten, auch im Süden Japans, gibt es hohe Mauern und Wellenbrecher. Aber dieser Schutz ist nur relativ. Das war die Lektion von damals, die viele Japanerinnen und Japaner noch heute im Kopf haben.
Könnte sich ein ähnliches Ereignis wie die Atomkatastrophe in Fukushima bei einem starken Beben wiederholen?
Entlang des Nankai-Grabens gibt es sechs Meiler in zwei Atomkraftwerken. Diese sind durch Mauern geschützt, die wegen der Tsunami-Gefahr nach der Fukushima-Katastrophe extra erhöht wurden. Bei einem schweren Beben im Nankai-Graben würde ich dennoch eine erneute Atomkatastrophe nicht ausschliessen.
Das Gespräch führte Amir Ali.