Auf den ersten Blick ist alles ruhig in Kiew und geht seinen gewohnten Gang. Doch die Menschen sind angespannt. So auch die 33-jährige IT-Fachfrau Kateryna Kazimirova. Sie ist blass, wirkt aber entschlossen und gefasst, als sie auf Russisch, ihrer Muttersprache, ihre Geschichte erzählt. «Manchmal wache ich nachts auf, gehe auf Social Media, lese die neuesten News. Dann macht sich auch mal Panik breit bei mir.»
Am Morgen gehe sie zur Arbeit, treffe Leute, und am Abend bereite sie sich wieder auf den Krieg vor. «Wir durchleben jeden Tag verschiedene emotionale Phasen», sagt Kateryna Kazimirova. Sie weiss, was Krieg und Besatzung bedeuten, denn sie stammt aus Donezk. Eine Stadt, die 2014 von Separatisten, die von Russland unterstützt werden, besetzt wurde.
Sie hat mehr als ein Jahr dort ausgeharrt. Sie habe versucht, optimistisch zu bleiben, habe an friedlichen pro-ukrainischen Protesten teilgenommen. Doch dann griffen die Separatisten zu Gewalt und die Stadt veränderte sich. «Immer mehr neue Leute kamen nach Donezk. Zuerst waren es solche aus dem Umland, aber irgendwie doch noch Leute von uns. Doch dann kamen Bewaffnete – und mit ihnen Russen.»
Bewaffnete «Helden»
Man habe sie auf der Strasse getroffen, und hörte, wie sie miteinander sprachen. Immer wieder sei sie, eine junge Frau, von den Fremden angesprochen worden. Sie hätten sich als Helden aufgeführt. Das habe sie psychisch nicht ertragen. Dazu kamen die Gewalt, Kämpfe. Immer mehr ihrer Freunde verliessen die Stadt. Ihre Vorgesetzten an der Universität mussten gehen. Und dann ging auch sie nach Kiew.
Es ist lustig, wenn die Leute fragen: Wie viele Bücher darf ich mitnehmen? Bücher nimmst du definitiv keine mit.
Nur noch die Mauern und Strassen der Stadt seien die gleichen geblieben. «Alle Leute, mein ganzes Umfeld aber waren fremd geworden.» Jetzt, da der Krieg auch die ukrainische Hauptstadt erfassen könnte, fragen Bekannte und Freunde sie, die Erfahrene, um Rat. Wie muss man sich verhalten? Was soll man im Ernstfall mitnehmen? «Es ist lustig, wenn die Leute fragen: Wie viele Bücher darf ich mitnehmen? Bücher nimmst du definitiv keine mit», so Kateryna Kazimirova.
Bereit, sich zu wehren
Wie ein Krieg in einer Grossstadt sein wird, das weiss sie nicht. Aber eines weiss sie genau: «Ich gehe nicht weg. Nirgendwohin.» Schon Donezk zu verlassen, sei sehr schwer gewesen. Damals aber, so sagt sie, sei alles anders gewesen. Man habe nicht genau gewusst, wer Feind, wer Freund sei. Man habe nicht recht verstanden, was vor sich ging, und sie habe sich völlig alleingelassen gefühlt. Doch jetzt, nach acht Jahren russischer Aggression, sei klar, wer der Feind sei. Man habe Erfahrungen gemacht.
Das führe zu mehr gemeinsamem Handeln, sagt Kateryna Kazimirova. Viele melden sich in Freiwilligen-Verbänden. Andere nehmen Online-Kurse in Erster Hilfe. Sie ist überzeugt, die Leute seien bereit, sich zu wehren und zu kämpfen. Sie und ihre Freunde jedenfalls sind es.
Was bedeutet es für Sie, Ukrainerin zu sein? Darüber habe sie in letzter Zeit viel nachgedacht, sagt Kateryna Kazimirova. «Eine Bejahung des Lebens.» Und: «Eine ewige Bewegung nach vorn, eine Existenz allen Schwierigkeiten, allen Kriegen und Bedrohungen zum Trotz.»