In der Ostukraine droht Krieg, obwohl 2015 ein Friedensprozess vereinbart wurde. Mit verhandelt hat damals die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini. Im Interview spricht sie über die verfahrene Situation in dem Konflikt.
SRF News: Das zweite Abkommen von Minsk wurde vor fast sieben Jahren unterzeichnet. Welche Bedeutung hat das Abkommen heute noch für die Lösung des Konflikts?
Heidi Tagliavini: Das Abkommen ist bedeutend, da es auch heute noch das einzige Papier ist, in dem alle zentralen Fragen, die bei der friedlichen Lösung des Konflikts im Osten der Ukraine wichtig sind. Den Rufen, Minsk müsse neu ausgehandelt werden, würde ich widersprechen. Es liegt nicht am Dokument. Es fehlt der politische Wille zur Umsetzung.
Fehlt es allen Seiten an politischem Willen?
Die Ukraine hat diesen Krieg nicht begonnen. Jetzt bremst sie die Umsetzung. Dies wird ihr zum Vorwurf gemacht. Die Ukraine wirft Russland vor, für keine Lösung Hand zu bieten. Es gibt bis heute keine Einsicht, was eine kompatible Lösung für alle wäre. Dazu müssten alle Kompromisse machen. Die Bereitschaft dazu ist klein und das gegenseitige Misstrauen riesengross.
Haben Sie den Eindruck, dass die Menschen in Donezk und Lugansk vergessen gegangen sind?
Die Menschen gehen in Konflikten meist vergessen. Meine Erfahrung auch mit anderen Konflikten ist, dass zwar von den Parteien vorgeben wird, schon für die Menschen etwas tun zu wollen, aber nur, wenn es den Maximalforderungen, die sie aus dem Konflikt herausschlagen wollen, entspricht.
Den Menschen in der Ostukraine wurde eine sorgenfreie Zukunft genommen.
Wenn in einem Abkommen nicht alle Konfliktparteien explizit genannt werden – in diesem Fall Russland – verzögert dies die Lösung des Konflikts?
Ich glaube schon. Hinter Konfliktparteien stehen oft grössere Mächte. Zur Lösung des Konflikts müssen deswegen nicht nur lokale Mächte Hand bieten, sondern auch regionale und transatlantische. Wir befinden uns in einer Situation, wo eine andere Konfrontation einen sehr starken Einfluss hat. Im Fall der Ostukraine ist dies die Konfrontation zwischen dem Osten und dem Westen.
Den Regionen Lugansk und Donezk steht durch das Abkommen ein Autonomiestatus zu. Ist dieser Status heute noch umsetzbar?
Es ist eine Verlegenheitslösung, wenn man einen Autonomiestatus in ein Dokument schreibt, denn es ist meistens sehr schwer umsetzbar und es ist eine tickende Zeitbombe. Denn früher oder später, wenn die Hoffnungen nicht erfüllt werden, dann bricht entweder wieder ein Konflikt aus, es kommt zum Krieg, oder es kommt zum vollständigen Bruch.
Sind die Regionen der Ostukraine heute bereits so stark in Russland integriert, dass sich dies nicht mehr rückgängig machen lässt?
Eine interessante Frage, zu welcher sich alle bedeckt halten. Es werden Fakten geschaffen. Russland schafft mit der Verteilung von Pässen, materieller und militärischer Unterstützung vor Ort Fakten. Von der anderen Seite wird durch die physische Trennung vom Resten der Ukraine ebenfalls ein Faktum geschaffen. Der Konflikt dauert schon so lange, dass es schwer vorstellbar ist, dass die Menschen wieder unbefangen miteinander leben können.
Das Gespräch führte Luzia Tschirky.