Im Juni 2014 verlässt der 34-jährige Igor Reint seine Heimatstadt Donezk mit dem allerletzten Zug in Richtung der ukrainischen Hauptstadt Kiew. «Ich habe gehofft, in der Ukraine bleiben zu können.» Doch lange bleibt Igor nicht. Im Sommer vor acht Jahren ist er einer von hunderttausende Binnenflüchtlingen im Land.
Igor sucht vergeblich nach einer bezahlbaren Unterkunft und einer Arbeitsstelle. «Mit meinem letzten Geld habe ich mir ein Zugticket zu meiner Grossmutter gekauft.» Igors Grossmutter lebt in Südrussland.
Wäre ich in Donezk geblieben, hätte man mich gezwungen, auf die andere Seite zu schiessen – und damit auf Freunde in der Ukraine.
Wie Millionen andere hat Igor in Russland und in der Ukraine Angehörige. Das Leben aller Familien hat sich unwiderruflich verändert.
In der Ukraine zu bleiben, sei für ihn nicht nur aus finanziellen Gründen unmöglich gewesen, sagt Igor heute: «Wäre ich geblieben, wäre ich in Kiew eingezogen worden von der ukrainischen Armee. Ich hätte auf Freunde und Verwandte in Donezk schiessen müssen. Wäre ich in Donezk geblieben, hätte man mich gezwungen, auf die andere Seite zu schiessen – und damit auf Freunde in der Ukraine.»
Die Heimat hinter sich lassen
Seit Sommer 2014 war Igor nicht mehr in seiner Heimatstadt. Ebenso geht es auch Alexander Schukowez. Er ist 50 Kilometer westlich von Donezk in einer kleinen Ortschaft aufgewachsen.
Während Igor sich 2014 sich weder mit dem pro-europäischen Protest auf dem Maidan in Kiew noch mit der pro-russischen Gegenbewegung im Donbas identifizierten konnte, war Alexander klarer Gegner des Maidans.
Ich habe damals nur Kleider für den Sommer eingepackt. Zurückgekehrt bin ich nie.
Mit gewalttätigen Auseinandersetzungen habe er nichts zu tun haben wollen. Seine Hoffnung: Auf der Krim während der Feriensaison Arbeit zu finden. «Ich habe damals nur Kleider für den Sommer eingepackt. Zurückgekehrt bin ich nie.»
Seine Eltern leben noch immer in seinem Heimatort. Mit der zunehmenden Anspannung steigen auch seine Sorgen: «Bisher können und wollen sie den Ort nicht verlassen. Sie haben ihr ganzes Leben dort verbracht. Dies alles einfach hinter sich zu lassen und wegzufahren – ohne zu wissen, wohin? Ich verurteile sie nicht, denn ich verstehe, dass dies sehr schwierig ist für sie.»
Als Alexander auf die Krim einreist, ist diese bereits von Russland annektiert. Bei Saisonende am Schwarzen Meer ist der Konflikt in Donezk jedoch nicht zu Ende. Mit Freunden reist Alexander nach Russland und verdient heute seinen Lebensunterhalt mit zwei kleinen Cafés in einem Moskauer Vorort.
Einbürgerung: ein Mittel zum Zweck
Wie viele Ukrainer heute in Russland leben, lässt sich nicht abschliessend sagen, zu unsicher die Datenlage. Auch Igor hat in der Zwischenzeit den russischen Pass erhalten. Damit gehört Igor zu mehr als einer Million Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich seit 2016 von Russland einbürgern liessen.
Ich bin ein Weltbürger. Mir ist das Konzept von Grenzen in seinen Grundsätzen unverständlich.
Für den russischen Staat ist dies eine Möglichkeit, Druck auf die ukrainische Regierung auszuüben. Für die Menschen ist es ein Mittel zum Zweck. Mit der Staatsbürgerschaft fallen eine Reihe von bürokratischen Hürden. Patriotische Gefühle hat Igor keine: «Ich bin ein Weltbürger. Mir ist das Konzept von Grenzen in seinen Grundsätzen unverständlich.»
Von der erleichterten Einbürgerung abgesehen habe er in Russland keine Hilfe erhalten: «Was du hier bekommen kannst, ist Asyl. Damit kannst du legal Arbeit finden und hast das Recht, dich hier aufzuhalten. Doch Unterstützung bekommst du keine.»
Wir sind wie Unkraut, entwurzelt und weggeworfen.
Die Statistik zeigt, dass Igor kein Einzelfall ist, sondern die Regel darstellt. Igor fühlt sich im Stich gelassen: «Wir sind wie Unkraut, entwurzelt und weggeworfen. In der Ukraine braucht uns niemand – uns braucht nirgendwo jemand.»
Misstrauen gegen alle Seiten
Auf viele Anfragen an Ukrainerinnen in Russland erhalten wir Absagen. So schreibt uns eine Frau aus der Ostukraine: «Ich sollte nicht gefilmt werden. Denn ich bin oft in der Ukraine. Von meinem russischen Pass wissen die Behörden dort nichts. Die Menschen haben Angst vor Krieg.»
Wenn die Haltung nicht der des Kremls entspricht, kommt die Person entweder ins Gefängnis oder muss ausreisen.
Das Misstrauen scheint bei vielen gegen alle Seiten gerichtet. Nachweislich gefährlich ist das Leben für Ukrainer in Russland. «Der russische Staat setzt in erster Linie jene Menschen unter Druck, die öffentlich ihre Haltung zum bewaffneten Konflikt sagen. Wenn diese Haltung nicht der des Kremls entspricht, kommt die Person entweder ins Gefängnis oder muss ausreisen», erzählt uns der ukrainische Journalist Roman Zimbaljuk.
Entweder Flucht oder Schweigen
Bis vor kurzem war er der letzte in Russland akkreditierte Journalist aus der Ukraine. Doch vor einem Monat muss er das Land überstürzt verlassen.«Als ich gewarnt wurde, stieg ich ins Auto und war innerhalb von sechs Stunden über der Grenze», erzählt er uns via Skype aus Kiew.
Als ich zu Verhören vorgeladen wurde, wusste ich Bescheid.
13 Jahre lang hat er in Russland als Korrespondent gearbeitet. Ende Dezember sei er in Moskau nicht länger in Sicherheit gewesen: «Als ich zu Verhören vorgeladen wurde, wusste ich Bescheid. Da ich das Schicksal von dutzenden, ja hunderten Ukrainern kenne, die in Russland in Haft sind, einzig aus dem Grund, weil sie Ukrainer sind, habe ich entschieden, wegzufahren.»
Ukrainer, die mit der Politik des Kremls nicht einverstanden sind, bleibt in Russland nur die Wahl zwischen Flucht und Schweigen.