Putins mehrdeutige Drohungen beherrschten weiterhin die aktuelle Krisendiplomatie, sagt Sicherheitsexperte Andreas Wenger von der ETH Zürich. Militärische Interventionen in der Ukraine lokalen oder grösseren Ausmasses seien nicht auszuschliessen.
SRF News: US-Aussenminister Antony Blinken und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow treffen sich am Freitag in Genf. Ist das die letzte Chance?
Andreas Wenger: Es ist wohl eher Teil einer Reihe weiterer Gespräche. Wie, wann und durch wen es weitergeht, hängt von der Entwicklung der Krise ab. Diese Woche wies der Westen die russischen Maximalforderungen zurück. Damit liegt der Ball wieder bei Putin.
Wie problematisch sind Aussagen von US-Präsident Joe Biden, wonach ein kleiner Einmarsch Russlands eine weniger starker Reaktion auslösen würde als eine richtige Invasion?
Das ist wohl ein Abbild dessen, dass wir noch nicht genau sehen, welche Ziele eine solche militärtechnische Intervention haben könnte.
Umfang und Intensität einer allfälligen Intervention werden die Reaktion mitbestimmen.
Ist es eine begrenzte Konsolidierung der Rebellengebiete in der Ostukraine? Oder eine Landbrücke zwischen diesen Gebieten und der Krim? Oder geht es um weiterführende territoriale Ziele? Natürlich werden Umfang und Intensität einer allfälligen Intervention auch die Reaktion mitbestimmen. Etwa wirtschaftlichen Sanktionen und die Frage, wie und durch wen man Kiew militärisch unterstützen würde.
Das US-Aussenministerium versuchte am Donnerstag, die Aussage Bidens klarzustellen. Wie kann man in eine Krisensituation sicherstellen, dass die Kommunikation stimmt?
Das ist ein Hauptzweck der Krisendiplomatie, die immer auch etwas inszeniert wirkt. Denn Russland überraschte den Westen nicht mit einem militärischen Fait accompli wie 2014, sondern legte nun seine Maximalforderungen auf den Tisch. Mit der politischen Absicht, die westlichen Staaten in eine Krisendiplomatie hineinzuzwingen.
Ist das Teil der «kooperativen Konkurrenz» zwischen Supermächten?
Das kann man so sagen. Bei kooperativer Konkurrenz muss man davon ausgehen können, dass weder die USA noch Russland grundsätzlich ein Interesse haben, dass sich die Ukraine-Krise ausweitet und möglicherweise zur militärischen Auseinandersetzung zwischen der Nato und Russland führt. Das signalisierten beide Seiten.
Ist das ganze Säbelrasseln nur ein Mittel zum Zweck, einen Vertrag abschliessen zu können? Wird es bei Drohungen bleiben?
Die Drohung ist immer noch unterspezifiziert. Man droht mit militärisch-technischen Gegenmassnahmen, lässt aber die Grössenordnung ganz bewusst offen. Wobei die Russen den Druck mit dem Zusammenzug umfassender Truppen erhöhten.
Russland will aus meiner Sicht mit der militärischen Provokation die Minimalzielsetzung erreichen.
Aus dieser Mehrdeutigkeit der Drohungen entsteht der Druck. Russland will aus meiner Sicht mit der militärischen Provokation die Minimalzielsetzung erreichen. Also die Kontrolle über die Einflusssphären und damit auch über die Ukraine und Weissrussland, ohne dass es zu einer Eskalation kommt, vor allem in den strategischen Beziehungen zu den USA.
Wird es also in der Ukraine nicht zum Krieg oder einer Invasion kommen?
Leider sind diese Woche die militärischen Risiken tendenziell gestiegen und militärische Interventionen von Russland nicht auszuschliessen. Diese können sehr lokal sein, aber auch ganze Teile unter russische Kontrolle bringen bis hin zum Einmarsch in Kiew. Diese Unsicherheit der Szenarien ist verbunden mit der russischen Hoffnung, die Nato aufzuweichen. Ausgang und Ausmass dieser Krise sind nach wie vor nicht absehbar.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.