In den letzten Tagen hat China überraschend schnell seine strenge Null-Covid-Politik über Bord geworfen. Zahlreiche Einschränkungen und Pandemie-Massnahmen wurden plötzlich aufgehoben. Das führt zu Engpässen in der medizinischen Versorgung.
Medikamente fehlen
«An Ibuprofen habe ich alles verkauft. Die nächste Lieferung habe ich noch nicht erhalten», sagt eine Apothekerin in ihrer weissen Schürze und beginnt aufzuzählen, was sonst noch alles ausverkauft ist: alle Aspirin- und Paracetamol-Präparate – für Kinder und Erwachsene. Alles weg. «Nachdem die Covid-Restriktionen gefallen sind, wollen sich nun alle selbst schützen», erklärt die zackige Schanghaierin.
Nachdem die Covid-Restriktionen gefallen sind, wollen sich nun alle selbst schützen.
Was sie damit meint: Erst jetzt können die Leute überhaupt Fiebersenker und Schmerzmedikamente kaufen. Medikamente, die man in jeder Schweizer Apotheke jederzeit ohne Rezept erhält, waren während der letzten Monate für viele Chinesinnen und Chinesen nur schwer erhältlich. Wer trotzdem beim Arzt oder der Apothekerin danach fragte, wurde schräg angeschaut, so als wolle man eine Covid-Infektion vertuschen.
Überraschende Lockerungen
Bis letzten Mittwoch: Die zuständige Direktorin der nationalen Gesundheitskommission verkündete die Kehrtwende und forderte die medizinischen Institutionen und Apotheken auf, sich vorzubereiten und der Bevölkerung den Zugang zu Medikamenten zu gewährleisten.
Eine Aufforderung, die für die Apotheken im Land ganz offensichtlich zu kurzfristig kommt. Sie müssen deshalb ihre Kunden mit leeren Händen wegschicken.
Produktion auf Hochtouren
Und dies, obwohl der Hersteller des meistverkauften Schmerzmittels in China im staatlich kontrollierten Radio sagt: «Seit zwei Monaten produzieren wir 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche» und er ergänzt: «Es gibt derzeit keine logistischen Probleme. Wir können die Bedürfnisse der Konsumenten befriedigen.»
Doch die Realität sieht wohl anders aus. Auf Nachfrage von Radio SRF, weshalb die Medikamente nun trotzdem in Apotheken fehlten, schreibt der lokale Ableger des britischen Pharmakonzerns: Man arbeite daran, die hohe Nachfrage so schnell wie möglich zu befriedigen.
Nachfrage übersteigt Angebot
Derweil hält die geschäftige Apothekerin im Stadtzentrum von Schanghai ihre Hand über den Kopf und sagt: Da oben sei die Nachfrage, seit die Covid-Massnahmen gefallen seien. Da unten sei das Angebot, sagt sie und streckt ihre Hand vor der Brust aus. Da gebe es eine Lücke.
Die rasant gestiegene Nachfrage ist Ausdruck der Verunsicherung vieler Chinesinnen und Chinesen. Während fast drei Jahren hat die staatliche Propaganda erklärt, dass die harten Lockdowns und schmerzhaften Einschränkungen zum Schutz der Bevölkerung seien. Jetzt fallen diese Massnahmen plötzlich.
In der Apotheke drängt derweil ein Kunde zum Verkaufstresen vor. Er will Selbsttests. Es stellt sich heraus, dass nicht nur die Medikamente ausverkauft sind, sondern auch die Selbsttests.
Politik äussert sich nicht
Während Apotheken und Spitäler versuchen, mit der derzeit chaotischen Situation umzugehen, hält sich die Politik zurück. Aus dem obersten Polit-Gremium gibt es noch keine Äusserung zur Abkehr von der Null-Covid-Politik.
Politikbeobachter gehen aber davon aus, dass die Abkehr von ganz oben befohlen wurde. Nur so sei es möglich, dass die harten Massnahmen so schnell fallengelassen werden.
Präsident Xi Jinping selbst dürfte also hinter der Kehrtwende stehen. Er, der selbst für die Null-Covid-Politik verantwortlich zeichnete und diese noch vor wenigen Wochen eisern verteidigte.
Wieso es dazu kam, darüber mag man in der Apotheke nicht spekulieren. Zuerst muss man nun die dadurch ausgelösten Turbulenzen bewältigen.