- Begleitet von scharfer Kritik an Premierminister Boris Johnson haben Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid ihre Ämter niedergelegt.
- Bereits wenige Stunden nach den beiden Rücktritten hat Johnson die Posten neu besetzt.
- Mittlerweile sind weitere Mitglieder aus Johnsons Kabinett zurückgetreten: der Familienminister und der für Schulen zuständige Minister.
Das Finanzressort geht an den bisherigen Bildungsminister Nadhim Zahawi, Gesundheitsminister wird der vorherige Stabschef des Premierministers, Steve Barclay. In ihren Rücktrittsschreiben stellten die beiden Minister infrage, ob Johnson in der Lage sei, eine Regierung zu führen, die sich an gewisse Standards halte. Direkter Anlass für das politische Erdbeben in Grossbritannien ist Johnsons Verhalten im jüngsten Skandal um sexuelle Belästigung durch ein führendes Fraktionsmitglied seiner Konservativen Partei.
«Mir ist klar, dass sich diese Situation unter Ihrer Führung nicht ändern wird», schrieb Gesundheitsminister Sajid Javid in seinem Rücktrittsschreiben. Finanzminister Rishi Sunak betonte, er sei immer loyal zu Johnson gewesen. «Aber die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass die Regierung richtig, kompetent und ernsthaft handelt.»
Ebenfalls zurückgetreten sind inzwischen Familienminister Will Quince und der für Schulen zuständige Minister of State for School Standards, Robin Walker. Zwar versicherten umgehend zahlreiche andere Regierungsmitglieder wie Vizepremier und Justizminister Dominic Raab oder Aussenministerin Liz Truss dem Premierminister ihre Unterstützung. Zudem gilt Johnson als «Stehaufmännchen», denn er hat mehrere Skandale überlebt. Aber die Stimmung innerhalb seiner Konservativen Partei ist am Boden. Der Premier müsse zurücktreten, sagte ein Kabinettsmitglied dem Sender Sky News.
«Diese Regierung bricht zusammen»
Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei erklärte in einer ersten Reaktion, die Regierung löse sich auf. «Nach dem ganzen Schmutz, den Skandalen und dem Versagen ist klar, dass diese Regierung jetzt zusammenbricht.» Er würde vorgezogene Wahlen unterstützten, erklärte Starmer später.
Der Oppositionsführer rief weitere Kabinettsmitglieder auf, mit einem Rücktritt ein Zeichen gegen den «pathologischen Lügner» Johnson zu setzen.
Insidern zufolge will Boris Johnson Insidern im Amt bleiben. Zwei dem Premier nahestehende Personen erklärten am Dienstagabend, Johnson werde um seinen Posten kämpfen.
Die Regierungskrise kommt zur Unzeit. Grossbritannien kämpft angesichts der immens gestiegenen Lebenshaltungskosten mit einer historischen Krise. Die Inflation ist so hoch wie seit rund 40 Jahren nicht mehr.
Für Mittwoch ist ein Auftritt Johnsons im Parlamentsausschuss geplant. Die traditionelle Befragung vor dem sogenannten Liaison Committee im Unterhaus ist einer der Höhepunkte des Jahres im britischen Parlament. Bei keiner anderen Gelegenheit hat der Regierungschef so wenig Möglichkeiten, unangenehmen Fragen auszuweichen. Das Ereignis wird daher auch als «grilling» bezeichnet.
Ebenfalls am Mittwoch wird die Regierung die Sozialversicherung für Millionen Menschen mit kleineren Einkommen senken. Johnson hoffte damit auf einen Befreiungsschlag. Zudem hatte der Premier soeben erst einen Skandal und ein Misstrauensvotum überstanden, bei dem ihn viele Beobachter schon am Ende gesehen hatten: die «Partygate»-Affäre um illegale Lockdown-Feiern am Regierungssitz in der Downing Street.