Nachdem Israels Militär Hamas-Chef Yahya Sinwar getötet hatte, keimte international die Hoffnung auf, nun könnten die Kämpfe zu einem Ende kommen. Die Realität sieht anders aus. Der Krieg, so scheint es, geht unvermindert weiter. Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King's College in London, ordnet ein.
SRF News: Hat der Tod von Yahya Sinwar gar nichts geändert?
Peter Neumann: Momentan sieht es nicht so aus. Allerdings ist es ein Riesenunterschied, wer die Hamas führt. Sinwar war in den letzten Jahren die dominante Figur in der Hamas und ist jetzt weg. Das verändert die Situation fundamental.
Es wäre naiv gewesen, zu erwarten, dass plötzlich alle die Waffen fallen lassen.
Warum greift Israel im Gazastreifen nach wie vor unvermindert an? Die Führungsriege der Hamas ist ja tot.
Ich denke, dass es aus israelischer Sicht schon Sinn macht, erstmal weiterzumachen und zu schauen, was auf der anderen Seite entsteht. Selbst wenn man vorhat, am Ende doch einen Deal zu machen. Entsteht da eine Situation, in der ein Kompromiss möglich ist? Wenn nicht, dann geht alles so weiter wie bisher. Das scheint Israels Strategie zu sein.
War es naiv zu denken, es könnte sich sofort etwas ändern?
Es wäre naiv gewesen, zu erwarten, dass plötzlich alle die Waffen fallen lassen. Die Hamas ist eine viel grössere Organisation, und viele von denen gibt es noch. Die haben erst mal keine andere Option als weiterzumachen. Ich glaube allerdings schon, dass sich aus dieser Situation möglicherweise Potenzial für eine Lösung eines Konfliktes ergibt.
Potenzial für eine Waffenruhe und ein Abkommen zwischen der Hamas und Israel?
Richtig, denn Sinwar hat in den letzten Monaten Maximalforderungen formuliert und Vereinbarungen erschwert. Wenn jetzt Leute in der Hamas drankommen, die möglicherweise etwas kompromissbereiter sind, dann könnte sich ein Fenster der Gelegenheit öffnen. Das würde beinhalten, dass es zu einem Waffenstillstand kommt und dass es auch eine Lösung gibt für den Gazastreifen ohne Hamas in der Regierung. Das ist für Israel ganz wichtig und auch eine Lösung für die knapp 100 Geiseln, die die Hamas noch hat.
Sie haben Sinwar als Wächter über diese Geiseln bezeichnet. Was heisst sein Tod für sie?
Diese Geiseln sind aus der Sicht der Hamas immer eine Lebensversicherung gewesen. Die Frage ist, an wen geht diese Entscheidungsgewalt nun über? Das könnte zu einer Situation führen, in der unterschiedliche Fraktionen innerhalb der Hamas miteinander kämpfen. Das könnte eine sehr chaotische Transition werden für die Hamas. Es könnte allerdings auch so sein, dass sich relativ schnell ein Nachfolger ergibt. Wir wissen das noch nicht. Davon hängt ab, ob es zu einem Deal mit Israel kommt und ob im Gazastreifen in sechs Monaten noch Konflikt ist.
Wenn Netanjahu clever wäre, dann würde er wahrscheinlich diese Möglichkeit ergreifen.
Mit der Tötung von Sinwar hat Israel ein zentrales Kriegsziel erreicht. Dennoch geht der Krieg weiter. Was hat Premier Netanjahu vor?
In Israel lässt sich beobachten, dass es eine Richtungsverschiebung gibt, dass viele Leute aus dem Lager von Netanjahu sagen: Eigentlich bringt es nichts mehr, dort weiterzumachen. Nur noch 50 Prozent der Hamas-Kämpfer sind übrig, und die meisten von denen stecken in den Tunneln. Ein Massaker wie am 7. Oktober wäre wahrscheinlich nicht mehr möglich. Deswegen könnte man diesen Konflikt beenden und sich zum Beispiel auf die Hisbollah im Norden des Landes konzentrieren, die viel stärker ist. Deswegen glaube ich, dass das für Netanjahu eigentlich eine Möglichkeit wäre zu sagen: Wir versuchen, aus einer Position der Stärke mit der Hamas eine Vereinbarung zu finden. Wenn Netanjahu politisch clever wäre, dann würde er wahrscheinlich diese Möglichkeit ergreifen.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.