Im Nahen Osten ist die Sorge vor einer militärischen Eskalation gross. Der Iran hat einen Vergeltungsschlag gegen Israel wegen der Tötung des Auslandschefs der Hamas, Ismail Hanija, in Teheran angekündigt. Neben Hanija hat Israel eine weitere wichtige Figur der militant-islamistischen Hamas getötet: Militärchef Mohammed Deif.
Wie geht es nun bei der Hamas weiter? Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London, analysiert die Lage.
SRF News: Wer führt nun die Hamas?
Peter Neumann: Die Hamas war nie eine so hierarchische Organisation wie zum Beispiel Al-Qaida, bei der ganz klar Bin Laden an der Spitze stand. Die Hamas wurde immer von einer Art Kollegium geführt.
Der stärkste Mann innerhalb der Hamas lebt noch. Das ist wahrscheinlich Yahya Sinwar.
Da waren unterschiedliche Machtzentren, die zum Teil miteinander im Wettbewerb standen. Hanija war der Auslandsanführer in Doha. Mohammed Deif war der Anführer der Al-Qassam-Brigaden, des terroristischen Flügels der Hamas. Der stärkste Mann in der Hamas lebt noch. Das ist wahrscheinlich Yahya Sinwar. Er ist der Anführer der Hamas im Gazastreifen und er kontrolliert das Schicksal der Geiseln.
Spielt es demnach gar keine Rolle, wer die getöteten Führungspersonen ersetzt?
Diese Tötungen bringen die Hamas aus dem Gleichgewicht. Aber sie machen sie nicht total handlungsunfähig. Wir wissen von den US-Geheimdiensten, dass ungefähr zwei Drittel der Kämpfer noch leben. Es gibt weiter Strukturen, es gibt weiter Kämpfer und die Hamas ist noch nicht besiegt.
Hat der Tod von Ismail Hanija Folgen für die Verhandlungen um einen Waffenstillstand?
US-Präsident Joe Biden hat es diplomatisch gesagt: «Hilfreich war das ganz bestimmt nicht.» Allerdings sind diese Verhandlungen im Prinzip seit Monaten schon gestoppt. Es kamen immer wieder Vorschläge, die waren entweder der Hamas nicht genehm oder Israel nicht. Viele Leute haben vorher schon gezweifelt, ob die Verhandlungen jemals zum Erfolg führen werden. Deswegen bin ich nicht sicher, ob sie dadurch wirklich gestört werden.
Könnte eine neue Führungsspitze die Organisation verändern?
Die Hamas hatte immer unterschiedliche Phasen. Es gab Phasen, während denen die Hamas kooperationsbereiter war.
Wenn man von ‹moderaten Anführern› der Hamas spricht, meint man Leute, die der Meinung sind, die Auslöschung Israels könne sich über einen längeren Zeitraum hinweg abspielen.
Allerdings muss man das im Kontext der Organisation sehen: Die Hamas ist eine islamistische Organisation, die langfristig das Ziel hat, Israel auszulöschen. Wenn man von «moderaten Anführern» der Hamas spricht, dann meint man Leute, die der Meinung sind, die Auslöschung Israels müsse nicht sofort passieren, sondern sie könne sich über einen längeren Zeitraum hinweg abspielen. Am eigentlichen Ziel ändert das nichts. Yahya Sinwar, der die Kontrolle über die Geiseln hat, ist ein Hardliner und er wird wohl dafür sorgen, dass die Leute, die jetzt kommen, ebenfalls Hardliner sind.
Israel will die Hamas zerstören. Kommt man diesem Ziel mit Tötungen von Führungspersonen näher?
Israel hat das immer gemacht. Bereits vor 20 Jahren wurde der Gründer der Hamas, Scheich Ahmed Yassin durch einen Raketenschlag von Israel getötet.
Es gibt die Hamas seit 20 Jahren. Die Tötung ihrer Anführer hat keinen grossen Unterschied gemacht.
Israel sieht dies als wichtiges Element seiner Kriegsführung an. Tatsache ist: Es gibt die Hamas seit 20 Jahren. Die Tötung ihrer Anführer hat keinen grossen Unterschied gemacht. Deswegen kann man debattieren, ob es die richtige Strategie ist. Aber Israel ist fest davon überzeugt, dass dadurch eine Abschreckungswirkung erzielt wird, dass die Organisation aus dem Gleichgewicht gebracht wird und wahrscheinlich davon abgehalten wird, noch Schlimmeres gegen Israel zu tun.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.