Seit Beginn des Gazakriegs kommt es im israelisch-libanesischen Grenzgebiet zu militärischen Konfrontationen. Ein Interesse an einer grossen Eskalation verneinten beide Seiten lang. Doch nun schaukle sich die Gewalt mit unabwägbaren Folgen weiter hoch, sagt Christoph Ehrhardt, Nahostkorrespondent der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» in Beirut.
SRF News: Israels Armee lässt verlauten, man habe «operative Pläne für eine Offensive im Libanon» genehmigt. Wie gross ist im Libanon die Furcht vor grösseren Angriffen?
Christoph Ehrhardt: Die Sorge in der Bevölkerung und unter westlichen Diplomaten in Beirut hat in den vergangenen Tagen und Wochen zugenommen. Nicht nur, weil die Drohungen aus Israel wieder lauter und konkreter werden, sondern auch weil die Gewalt an der Grenze zwischen der Hisbollah und den israelischen Streitkräften zuletzt merklich eskaliert ist. Letzte Woche feuerte die Hisbollah über drei Tage hunderte Raketen auf Israel ab. Als Vergeltung für einen Drohnenangriff, bei dem der vielleicht wichtigste Kommandeur der Milizen getötet wurde.
Es ist eben nicht nur eine bewaffnete Auseinandersetzung, sondern auch ein Abschreckungswettbewerb.
Warum schaukelt sich die Lage gerade jetzt derart hoch?
Das ist in der Logik dieser Konfrontation angelegt. Es ist eben nicht nur eine bewaffnete Auseinandersetzung, sondern auch ein Abschreckungswettbewerb: Lange Zeit hat die israelische Armee hart gegen die Hisbollah zugeschlagen und dabei viele Feldkommandeure getötet und militärische Infrastruktur zerstört, ohne dass es eine stärkere Antwort gegeben hätte. Das hat auch zur Verstimmung innerhalb der Hisbollah geführt, die irgendwann entschieden hat, wieder härter zurückzuschlagen. Dies wiederum erfordert eine entsprechende Reaktion der Israelis. So geht es jetzt seit Monaten.
Es geht der Hisbollah jetzt schon noch darum, diese Konfrontation gesichtswahrend zu begrenzen.
Hisbollah-Chef Nasrallah sagte am Mittwoch, Libanon werde bei einem aufgezwungenen Krieg zurückschlagen. Gleichzeitig betont er immer wieder, keinen grossangelegten Krieg mit Israel anzustreben. Welche Strategie verfolgt er.
Es geht der Hisbollah jetzt schon noch darum, diese Konfrontation gesichtswahrend zu begrenzen. Nasrallah hat sich in eine Zwangslage gebracht, weil er die Angriffe der Hisbollah auf Israel an den Krieg im Gazastreifen beziehungsweise einen dauerhaften Waffenstillstand geknüpft hat. Das ist ein gefährliches Spiel auf einem schmalen Grat. Denn die Drohungen Israels nehmen zu. Die Hisbollah kann nicht einfach aufhören, ohne als politischer Akteur im Libanon Schaden zu nehmen.
Ist mit noch massiveren Angriffen im Libanon zu rechnen?
Eine Prognose ist sehr schwierig. Grundsätzlich besteht in Israel die Haltung, dass es nach den Terrorerfahrungen des 7. Oktobers ein Sicherheitsarrangement entlang der Grenze braucht. Die Generalität in Tel Aviv dürfte sich aber bewusst sein, dass bei einem grossen Krieg gegen die Hisbollah Israel grossen Schaden nehmen würde. Deswegen ist in solchen Ankündigungen noch immer ein gutes Stück Säbelrasseln.
Fachleute sind sich einig, dass Israel nicht alle diese Raketen und Drohnen der Hisbollah abfangen könnte.
Die Hisbollah gilt als deutlich schlagkräftiger als die Hamas?
In der Tat. Der Organisation hat Iran als staatlichen Förderer. Er beliefert die Hisbollah mit allem, was sie für ihre Art der Kriegsführung braucht. Darunter auch präzis lenkbare Raketen, die jeden Winkel in Israel treffen können. Fachleute sind sich einig, dass Israel nicht alle diese Raketen und Drohnen der Hisbollah abfangen könnte. Nasrallah hat gestern nochmals klar damit gedroht, dass man sich an keine Regeln halten und israelischen Angriffen mit allen Mitteln entgegenstellen werde.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.