Während der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen wackelt, verschärft sich die Situation im besetzten Westjordanland. Tahani Mustafa, Palästina-Analystin der Denkfabrik International Crisis Group (ICG), bezeichnet die Situation als «katastrophal».
Die israelische Armee hat Mitte Januar die Operation Eiserne Mauer gestartet, laut israelischen Angaben eine präventive Antiterror-Operation, sagt Mustafa. 40‘000 Menschen wurden vertrieben, Infrastruktur und zahlreiche Wohnhäuser demoliert. Bisher sind gegen 60 Menschen getötet worden, unter ihnen mehrere Frauen und Kinder.
Tahani Mustafa stellt die Offensive in einen Zusammenhang mit Bestrebungen der israelischen Regierung, das Westjordanland zu annektieren, also dem israelischen Staat einzuverleiben. Um seine Expansionspolitik fortführen zu können, wolle Israel den palästinensischen Widerstand unterbinden, sagt Mustafa.
Gewaltsame Vertreibungen
Diese Einschätzung teilt Nimrod Novik von «Commanders for Israel’s Security», einem Zusammenschluss ehemaliger israelischer Militärs und Geheimdienstleute, die sich für die Zweistaatenlösung einsetzen. Novik verweist auf Finanzminister Bezalel Smotrich, der 2017 einen Annexionsplan vorgelegt hat (siehe Box). «Seit Smotrich Teil der Regierung ist, ist die Gewalt jüdischer Siedler gegen unschuldige Palästinenser dramatisch angestiegen, ebenso die Annexion palästinensischen Landes. Und jetzt die Operation Eiserne Mauer. Man muss nur die einzelnen Punkte verbinden, um zu sehen: Es sind Teile desselben Puzzles.»
Eine Annexion des Westjordanlandes wäre für die palästinensische Bevölkerung der Anfang vom Ende, wie ICG-Analystin Tahani Mustafa sagt. «So weit von ihrem Ziel der Selbstbestimmung haben sich Palästinenserinnen und Palästinenser noch nie gefühlt. Und mehr noch: Viele fürchten, ihr Land verlassen zu müssen». Und dies würde nicht freiwillig geschehen. «Wir sprechen von gewaltsamen Vertreibungen, und das passiert im Westjordanland bereits.»
Schlecht für Israeli, Palästinenser und die USA
Der pensionierte israelische Kommandant Nimrod Novik befürchtet eine Kettenreaktion. Er sagt, ein palästinensischer Massenexodus nach Jordanien würde den israelisch-jordanischen Friedensvertrag gefährden – und damit auch die Friedensverträge mit Ägypten und den Unterzeichnern des Abraham-Abkommens. «Israels Bemühungen, die Beziehungen zu Saudi-Arabien zu normalisieren und als Schutz vor iranischen Aggressionen regionale Allianzen zu schmieden, wären damit vom Tisch.»
Die Annexion würde nach Einschätzung Noviks die extremen Elemente auf palästinensischer Seite mobilisieren, sprich: die Hamas stärken. Mustafa sagt, Gewalt vonseiten der israelischen Armee würde auch die Gewaltbereitschaft unter den Palästinenserinnen und Palästinensern erhöhen.
Die Palästina-Expertin und der israelische Sicherheitsexperte sind sich einig: Israel befindet sich bereits auf dem Weg der schleichenden Annexion. Gibt US-Präsident Donald Trump dazu zusätzlich seinen Segen, würde das den Prozess noch beschleunigen. «Wir sprechen von einer Entwicklung, die sehr, sehr schlecht für Israel wäre. Aber auch für die Palästinenser und die ganze Region. Sie würde auch US-Interessen zuwiderlaufen – und jenen von Donald Trump.»