Die israelische Armee hat in den letzten Tagen und Wochen im Westjordanland zehntausende Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben. Das Ziel der Aktion sei es, gegen bewaffnete Palästinensergruppen vorzugehen, sagt Israel. Unter Palästinenserinnen und Palästinensern vor Ort steigt jedoch die Angst, dass sie permanent vertrieben werden. Auslandredaktorin Susanne Brunner schildert ihre Eindrücke vor Ort und ordnet die Lage ein.
Wieso führt das israelische Militär gerade jetzt eine solche grossangelegte Aktion im Westjordanland durch?
Mit der Waffenruhe im Gazastreifen kam der Austausch israelischer Geiseln der Hamas gegen palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen. Ein Teil der Freigelassenen – so die offizielle Begründung – sind verurteilte Militante, auch solche, die der Hamas angehören. Israel befürchtet, dass die Hamas vom Westjordanland einen Angriff planen könnte, wie ihn die Hamas am 7. Oktober 2023 aus dem Gazastreifen verübt hat.
Wie legitim ist das israelische Vorgehen?
Israel behauptet, seine Armee gehe nur gegen militante, bewaffnete Gruppierungen vor. Wie im Gazastreifen, sind im Westjordanland aber auch sehr viele Zivilistinnen und Zivilisten betroffen. Insgesamt sind im Westjordanland seit Beginn des Krieges im Oktober 2023 mehr als 900 Menschen getötet und Tausende verhaftet worden: Wie viele davon eine Gefahr für Israel darstellten, lässt sich nicht unabhängig überprüfen. Während die israelische Armee von der Aushebung terroristischer Gruppierungen spricht, erzählt die Bevölkerung von brutalen Angriffen ohne Rücksicht auf Kinder, Frauen oder alte Leute – ähnlich wie die Bevölkerung im Gazastreifen.
Welche Rolle spielen dabei die israelischen Siedler?
Selbst israelische Armee-Offiziere haben die Siedlergewalt wiederholt kritisiert. Die Gewalt gegen die palästinensische Zivilbevölkerung sei verbrecherisch und stelle eine Gefahr für Israel dar, sagte zum Beispiel der inzwischen pensionierte, hochrangige Offizier Yehuda Fox. Siedler ziehen sich Armeeuniformen an, sodass sie kaum von Soldaten unterschieden werden können, und gehen wie Gangs gegen palästinensische Dörfer, Olivenhaine und Zivilpersonen vor. Sie rauben, brandschatzen und töten, und höchst selten wird einer von ihnen zur Rechenschaft gezogen.
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Bild 1 von 2. Die Freilassung palästinensischer Gefangener aus israelischen Gefängnissen lässt Israel befürchten, ein Teil dieser könnte sich der Hamas anschliessen und Anschläge auf Israel verüben. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 2. Checkpoint Qalandia bei Ramallah im Westjordanland: einer von über 800 Checkpoints im von Israel besetzten Westjordanland. Bildquelle: SRF.
Sie stellen auch willkürlich Strassenblockaden auf oder lassen palästinensische Bauernfamilien nicht auf ihr Land, weil sie behaupten, es sei ihr Land. Nach internationalem Konsens ist das Westjordanland zum grössten Teil von Israel besetztes Land. Aber das sehen radikale Siedler anders, und sie werden gestützt von der Regierung, die den Bau jüdischer Siedlungen massiv vorantreibt.
Wie wirkt sich die neue US-Administration unter Donald Trump auf die Situation aus?
Die radikalen Kräfte in der israelischen Regierung und vor allem radikale Siedler fühlen sich von Präsident Trump ermutigt, gegen Palästinenser vorzugehen. Schliesslich hat der neue US-Präsident gesagt, die gesamte Bevölkerung solle den Gazastreifen verlassen und sich in Jordanien und Ägypten eine neue Heimat suchen. Gleichzeitig hat Trump angekündigt, er werde innerhalb eines Monats sagen, ob Israel das Westjordanland annektieren dürfe. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hatte im letzten Sommer geurteilt, dass die israelische Besatzung im Westjordanland illegal sei. Aber das ist Trump egal: Er hat sogar Sanktionen gegen den UNO-Gerichtshof verhängt.