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Psychologin im Gazastreifen «Das Nervensystem der Kinder ist total angespannt»

Israel und die Hamas können sich nicht auf eine Verlängerung der Waffenruhe im Gazastreifen einigen. Um die Hamas unter Druck zu setzen, hat Israel die Stromversorgung teilweise gekappt. Die Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk hat das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen hautnah erlebt.

Katrin Glatz Brubakk

Kinderpsychologin

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Katrin Glatz Brubakk ist Kinderpsychologin, die sich auf Traumata spezialisiert hat. Die deutsch-norwegische Expertin war im Spätsommer 2024 und Anfang 2025 für jeweils zwei Monate im Auftrag der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im Gazastreifen.

SRF News: In welcher Verfassung waren die Menschen, als sie im Januar und Februar im Gazastreifen waren?

Katrin Glatz Brubakk: Die Bevölkerung ist erschöpft. Mit der Waffenruhe atmen die Menschen etwas leichter. Sie müssen sich nicht mehr jede Nacht fürchten, dass eine Bombe auf ihr Zelt fällt und ihre Kinder umgebracht werden. Doch jetzt kommt die Trauer des Friedens: Alles, was die Menschen im Krieg erlebt haben, wird verarbeitet.

Das eigene Haus, die Nachbarschaft, die Schule der Kinder – alles ist zertrümmert.

Die Trauer über geliebte Menschen, die man verloren hat. Die Unsicherheit über die Zukunft. Viele sind in ihre Heimat im Norden des Gazastreifens zurückgekehrt und sehen, wie gross die Zerstörung ist: Das eigene Haus, die Nachbarschaft, die Schule der Kinder – alles ist zertrümmert.

Die Unsicherheit bleibt trotz einer Waffenruhe nach mehr als fünfzehn Monaten Krieg?

Einer meiner Kollegen sagte treffend: Alles, was auf die Menschen in Gaza jetzt wartet, ist noch mehr Unsicherheit. Ihre Zukunft wird von anderen beschlossen. Egal, ob das die USA, Israel oder arabische Staaten sind. Sie selbst haben keinen Einfluss darauf, wie ihr Leben weitergehen wird. Können sie in Gaza bleiben oder werden sie gezwungen, wegzuziehen? Sollen sie im Norden des Gazastreifens weiterleben, obwohl dort alles zerstört ist?

Kinder vor zerstörten Häusern in Gaza (Februar 2025).
Legende: «Natürlich bräuchten die meisten Kinder in Gaza eine längere Traumatherapie», sagt die Psychologin. «Die Unsicherheit ist aber noch so gross, dass wir auch in der Therapie nur von Tag zu Tag mit kleinen Übungen helfen können.» Keystone/AP/Jehad Alshrafi

Viele Menschen denken nur noch von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde. Sie müssen Wasser und Essen für ihre Kinder beschaffen. Wer eine Arbeit hat, konzentriert sich darauf. Noch immer dreht sich sehr viel um das tägliche Überleben. Es kostet enorm viel Kraft, zu überlegen und zu versuchen, Lösungen zu finden – obwohl es eigentlich keine gute Lösung gibt.

Nehmen Kinder die Waffenruhe anders als Erwachsene wahr?

Sehr viele Kinder haben sich gefreut, als diese kam. Sie mussten keine Angst mehr haben, dass die Bomben fallen. Aber sie haben sich auch vorgestellt, wie es sein würde, wieder nach Hause zu kommen und im eigenen Bett zu schlafen. Viele haben sich vorgestellt, dass sie jetzt ihr normales Leben zurückbekommen würden.

Das Nervensystem von Kindern, die solche Traumata und solchen Stress wie in Gaza erlebt haben, ist total angespannt.

Ich habe viele Kinder und auch Erwachsene getroffen, die sehr enttäuscht darüber waren, als sie dann tatsächlich zurückgekehrt sind. Und entdecken mussten, dass alles zerstört war. Zudem kriegen die Kinder mit, wenn die Erwachsenen grübeln und gestresst sind. Die Freude über die Waffenruhe war nur von kurzer Dauer. Auch die Kinder machen sich Sorgen um die Zukunft.

Wie gehen Sie mit solchen Kindern im Gespräch um?

Das Nervensystem von Kindern, die solche Traumata und solchen Stress wie in Gaza erlebt haben, ist total angespannt. Sie können nicht richtig atmen, nicht entspannen, nicht richtig schlafen. Wir helfen den Kindern, geben ihnen kleine Pausen, in denen sie entspannen können, damit ihr Stresszustand nicht chronisch wird.

Ich spiele sehr viel mit den Kindern. Denn Spielen ist die Sprache der Kinder. Dadurch können sie ausdrücken, wie es ihnen geht und was sie erlebt haben. Durch Spielen können wir auch vieles bearbeiten. Ich habe zum Beispiel immer Seifenblasen mit: Die Kinder müssen richtig tief Luft holen, um eine Seifenblase zu blasen und gut ausatmen. Dadurch wird das Nervensystem entspannt.

Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.

Echo der Zeit, 10.03.2025, 18 Uhr ; 

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