Wie war es möglich, dass die israelischen Geheimdienste und die Armee die Anschläge der Hamas vom 7. Oktober 2023 nicht verhindern konnten? Diese Frage treibt Israel seit Kriegsbeginn um. Bis heute gibt es keine staatliche Untersuchungskommission, die das Versagen der Politik und der Sicherheitsorgane im Vorfeld des Massakers aufarbeitet.
Ein inoffizielles Komitee von Überlebenden des Massakers hat eigene Untersuchungen aufgenommen und deren Resultate kürzlich vorgestellt. Es kommt zum Schluss: Regierung und Sicherheitsapparat haben versagt und ihre Pflicht, Bürgerinnen und Bürger zu schützen, verletzt.
Und: Premierminister Benjamin Netanjahu persönlich trägt demnach Verantwortung für Fehlentscheide, die zum Versagen der Behörden am 7. Oktober mit beigetragen haben. Besonders einen Punkt hebt das Komitee hervor: Netanjahus Plan, die Hamas in Gaza mit Geld zu versorgen.
Koffer voller Bargeld
Hintergrund ist der Bruch zwischen der palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland und der Hamas, die Gaza unter ihre Kontrolle gebracht hatte.
Ab 2018 stellte die Behörde in Ramallah ihre Geldzahlungen an die Hamas ein. Doch Netanjahu sorgte dafür, dass die islamistischen Herrscher über den Gazastreifen via Katar mit Bargeld versorgt wurden. Monatlich um die 30 Millionen Dollar wurden in Koffern nach Gaza gebracht.
Sinwar repräsentierte eine Politik, die Israel das Existenzrecht abspricht. Netanjahu ist sein Spiegelbild. Er ist gegen einen Staat Palästina.
«Quiet for Cash» wurde die Praxis genannt, «Ruhe gegen Geld». Die Idee: Indem man der Hamas finanziell unter die Arme greift, stellt man die Israel feindlich gesinnte Organisation ruhig. Spätestens am 7. Oktober 2023 stellte sich diese Idee als fataler Irrtum heraus.
Kritischer Historiker
Der israelische Historiker Adam Raz hat dem Thema sein neustes Buch gewidmet. Er geht in seiner Interpretation noch weiter. Zwischen Ministerpräsident Netanjahu und dem inzwischen getöteten Hamas-Chef in Gaza, Yahya Sinwar, habe es eine Art Allianz gegeben.
Beide hätten das gleiche Ziel verfolgt: Zu verhindern, dass die Zweistaatenlösung verwirklicht wird. «Sinwar repräsentierte eine Politik, die Israel das Existenzrecht abspricht. Netanjahu ist sein Spiegelbild. Er ist gegen einen Staat Palästina».
Laut Raz war es für Netanjahu opportun, die Hamas in Gaza zu stärken, um damit Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas in Ramallah zu schwächen, der die Zweistaatenlösung anstrebte. «Nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund», sagt Raz.
Krieg – statt eine Lösung zu suchen
Sein Urteil ist vernichtend: Sinwar und Netanjahu wollten das Land nicht teilen, wussten aber, dass weder die Palästinenser noch die Israeli einfach so verschwinden würden. Um eine Lösung des Konflikts hinauszuzögern oder zu verhindern, wählten sie den Krieg – um den Preis Abertausender unschuldiger Opfer.
Historiker Raz, der sich der politischen Linken zuordnet, geht hart ins Gericht mit seinem Regierungschef – und mit seiner Gesellschaft, die «unsere Kriegsverbrechen in Gaza ignoriert». Eine ähnlich schonungslose Aufarbeitung der Verbrechen der Hamas wünscht er sich von palästinensischen Historikerinnen und Historikern.