Israels Militär hat rund zwei Monate nach Beginn der Waffenruhe im Gazastreifen wieder massive Angriffe auf die islamistische Hamas im gesamten Küstenstreifen aufgenommen. Mindestens 200 Menschen seien ums Leben gekommen, teilte das palästinensische Gesundheitsministerium im Gazastreifen mit. Zudem gab es auch Hunderte Verletzte. Die Angaben lassen sich derzeit nicht unabhängig prüfen und unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und Kombattanten. Der Berichterstatter für ORF, Nikolaus Wildner, erklärt, wie es so weit kommen konnte.
SRF News: Warum ist das Abkommen gescheitert?
Nikolaus Wildner: Das Abkommen war bereits seit Anfang März in Schwebe. Israel hatte sich geweigert, die zweite Phase dieses ursprünglich vereinbarten Dreistufenabkommens mit der Terrororganisation Hamas umzusetzen. Israels Armee hätte mit dem Abzug aus dem Gazastreifen beginnen und weitere palästinensische Sicherheitshäftlinge freilassen müssen, damit die Hamas die verbleibenden 59 israelischen Geiseln freilässt.
Israel wollte stattdessen aber erreichen, dass die Hamas die ausgelaufene erste Phase des Abkommens verlängert, also die Freilassung der Geiseln ohne Abzug der israelischen Armee. Dem hat die Hamas trotz Androhung neuer Kämpfe nicht zugestimmt. Und jetzt hat Israel diese Drohung neuer Kämpfe wahr gemacht.
Es hat sich abgezeichnet, dass die Hamas nicht auf Israels Drohungen mit Zugeständnissen reagieren wird, also keine weiteren Geiseln freilassen wird.
Sie sagen, dieses Abkommen sei schon länger in der Schwebe gewesen. Warum erfolgt der Angriff Israels gerade jetzt?
Zu den genauen Überlegungen über das Timing können wir nur spekulieren. Aber die Drohung neuer Kämpfe ist schon seit einigen Tagen in Israel deutlich im Raum gestanden. Auch die meistgelesene israelische Tageszeitung hat in den vergangenen Tagen immer wieder zu einer möglichen Wiederaufnahme des Kriegs getitelt. Dazu kommt, dass die israelische Armee einen neuen Generalstabschef hat, der eben in diesen letzten Wochen seit Anfang März neue Pläne ausgearbeitet hat. Darüber ist immer wieder berichtet worden. Es hat sich daher abgezeichnet, dass die Hamas nicht auf Israels Drohungen mit Zugeständnissen reagieren wird, also keine weiteren Geiseln freilassen wird. Somit hat sich das israelische Sicherheitskabinett für ein Ende des Waffenstillstands entschieden, vorerst in der Form von Luftangriffen. Aber es könnten auch wieder Bodeneinsätze folgen.
Viele Angehörige der Geiseln haben in den letzten Tagen immer wieder dafür plädiert, den Krieg nicht wieder fortzusetzen.
Wie gross ist das Risiko, dass Israel in Bezug auf die noch verbleibenden Geiseln eingeht?
So wie sich das von aussen einschätzen lässt, ist dieses Risiko für die Geiseln enorm hoch. Auch viele Angehörige der Geiseln, Unterstützer der Familien, haben in den letzten Tagen immer wieder dafür plädiert, den Krieg nicht wieder fortzusetzen. Viele machen sich in Israel grosse Sorgen um das Schicksal dieser 59 verbleibenden Geiseln, von denen etwas weniger als 30 noch am Leben sein dürften. Es scheint auch unwahrscheinlich zu sein, dass die Hamas unter Druck Geiseln freilassen wird, denn das ist das einzige Faustpfand, das die Terrororganisation Hamas gegenüber Israel besitzt. Viel eher ist davon auszugehen, dass – wenn die Hamas militärisch vor einer Zerschlagung stehen sollte, wie es das israelische Sicherheitskabinett vorgibt – die Hamas vorhat, mit diesen Geiseln quasi unterzugehen.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.