Jean-David Levitte hat viele Spitznamen: Den «Grosswesir der französischen Präsidenten» nennen ihn die einen, den «Kardinal der Diplomaten» die anderen. Oder, banaler, den «Diplomator», also die Verkörperung des Diplomaten schlechthin. Sein Palmarès ist eindrücklich: Gleich drei Präsidenten diente er als aussenpolitischer Berater: Valéry Giscard d'Estaing, Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy. Unter Sarkozy war er der sogenannte «Sherpa», der Chefunterhändler für die G7- und G20-Gipfel. Er vertrat sein Land als Botschafter in Genf, in New York, in Washington, also auf den wichtigsten Posten.
SRF News: Präsident Emmanuel Macron bezeichnet die Nato als hirntot. Pflichten Sie ihm bei?
Jean-David Levitte: Es ist ärgerlich, dass die Nato derzeit und vor aller Welt das Bild einer völlig zerrütteten Familie abgibt. Das Bild einer Familie, deren Oberhaupt, nämlich US-Präsident Donald Trump, gar nicht weiss, ob er überhaupt zu dieser Familie gehören möchte. Und dessen Motto «Amerika zuerst» im Grunde «Amerika allein» meint.
Die Nato steckt also vor ihrem Gipfel Anfang Dezember in London tief in der Krise…
Ja. Wir sehen vor uns ein Russland, das immer aggressiver auftritt. Und wir haben im Innern der Nato das Mitglied Türkei, dessen Präsident Recep Tayyip Erdogan sich immer weiter von seinen europäischen Partnern entfernt und der den Eindruck erweckt, als würde er am liebsten zurückkehren in die Zeit des Imperiums von Sultan Süleyman dem Prächtigen. Auch die übrigen Mitgliedländer haben längst nicht immer dieselbe Wellenlänge.
Ist Trump also innerhalb der westlichen Allianz gar nicht das grösste Problem?
Wir hoffen natürlich, dass die USA voll und ganz in der Nato engagiert bleiben. Aber wir können nicht unbedingt darauf zählen. Es gab in der US-Geschichte immer wieder und oft lange isolationistische Phasen: Vor dem Ersten Weltkrieg, vor dem Zweiten Weltkrieg. Und auch jetzt wieder, nach den wenig erfolgreichen Kriegen der USA in Afghanistan oder im Irak, ist die Lust der Amerikaner äusserst gering, weiterhin die Rolle des Weltpolizisten zu spielen.
Die Zeiten sind vorbei, als wir Europäer es uns in der Nato auf dem Rücksitz bequem machen und den Amerikanern das Steuer überlassen konnten.
Wir müssen also damit rechnen, dass auch nach dem Ende der Trump-Präsidentschaft die USA nicht mehr wie im Kalten Krieg die Führungsrolle spielen wollen. Das Phänomen Donald Trump treibt zwar die Abkehr der USA von ihren Partnern bis zum Exzess. Aber er steht keineswegs allein da.
Heisst das, die Europäer kommen nicht umhin, selber mehr Verantwortung zu übernehmen – was sie bisher nicht wirklich wollten und schafften?
Die Zeiten sind vorbei, als wir Europäer es uns in der Nato auf dem Rücksitz bequem machen und den Amerikanern das Steuer überlassen konnten. Die Nato ist ja nicht einfach eine amerikanische Allianz. Sie ist ebenso sehr unsere Allianz, eine europäische Allianz.
Der europäische Pfeiler der Nato muss gestärkt werden.
Der europäische Pfeiler der Nato muss gestärkt werden. Und es ist auch nicht so, dass die USA unbedingt bei jeder Nato-Operation mitmachen müssen. Finanziell, technologisch und damit auch militärisch wären die Europäer durchaus imstande, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Das Problem der Nato ist ja ohnehin nicht das Fehlen der militärischen Stärke. Die ist nach wie vor ausreichend vorhanden. Das Problem ist die politische Schwäche.
Sehen Sie denn, dass die Europäer tatsächlich bereit sind zu einem engeren militärischen Schulterschluss – wenn selbst Schlüsselpartner wie Deutschland und Frankreich sich nicht einig sind?
Meines Erachtens liegen Deutschland und Frankreich in ihrer langfristigen Zielsetzung gar nicht so weit auseinander, wie es manchmal heisst. Allerdings ist die Geschichte der beiden Länder eine unterschiedliche: Frankreich kann es sich erlauben, etwas forscher aufzutreten. Deutschland neigt zu mehr Zurückhaltung und Vorsicht, aus verständlichen historischen Gründen.
Aber gerade die neuerdings sehr enge Zusammenarbeit im Sahel, in Niger und Mali zeigt, dass wir uns aufeinander zu bewegen. Wir machen auch Fortschritte im Rüstungsbereich: gemeinsame Entwicklung, Beschaffung, gemeinsamer Einsatz.
Ich bin ebenfalls überzeugt, dass Grossbritannien, trotz des Brexit, für die europäische Sicherheit weiterhin eine zentrale Rolle spielen wird. Es muss ja gar nicht sein, dass alle EU-Mitglieder bei einem engeren europäischen Schulterschluss voll mitmachen. Es reicht, wenn vier, fünf wichtige dazu bereit sind.
Noch ist Europa jedoch nicht so weit. Und das dürfte vor allem die grossen Rivalen des Westens freuen, China und Russland. Geben diese beiden Grossmächte bald weltpolitisch den Takt an?
Es ist hauptsächlich eine Gemeinsamkeit, die momentan Peking und Moskau zusammenschweisst. Nämlich, dass beide Mächte autoritär regiert werden. Doch in der Geschichte gab es zwischen China und Moskau meistens mehr Trennendes als Gemeinsames. Es würde mich deshalb wundern, wenn sich die aktuelle Nähe der beiden Regierungen als dauerhaft herausstellen würde.
Doch unabhängig davon, wie eng Peking und Moskau kooperieren – momentan sieht es ganz danach aus, als hätten autoritäre Regime Oberwasser, während Demokratien arg geschwächt sind…
Was mir auffällt, ist nicht so sehr eine einseitige Schwächung der Demokratien. Vielmehr, dass weltweit sämtliche Regierungen unter Druck sind: demokratische, populistische, diktatorische. Es sind nicht nur die Menschen in Frankreich, Deutschland, Grossbritannien oder Italien unzufrieden mit ihren Regierungen. Sondern die Menschen überall.
Und sie verschaffen ihrem Unmut nicht zuletzt in den sozialen Medien Luft, laut und wütend. Wir erleben heftige Demonstrationen in Teheran gegen das angeblich unverrückbare Regime der Mullahs. Wir sehen Kundgebungen gegen den iranischen Einfluss in Bagdad und Beirut. Immer wieder gibt es auch Proteste gegen das russische Regime, vor allem in den Grossstädten. Und in Hongkong bricht der Volkszorn aus. Überall gibt es Konfrontationen, die tendenziell an Schärfe zunehmen.
Trügt also der Eindruck, dass in schwierigen Zeiten autoritäre Regime oft schneller reagieren können als komplexe demokratische Systeme?
Ja, das halte ich für falsch. Die Behauptung stimmt nicht, dass wir auf der einen Seite effiziente autoritäre Regime haben, die zudem immer mehr Wohlstand für ihre Bürger schaffen, und auf der anderen Seite gelähmte demokratische Regierungen, die keine Lösungen für akute Probleme finden. Nicht nur die Demokratien machen schwierige Zeiten durch, stecken in der Krise, sondern ebenso die Diktaturen.
Nehmen wir das Beispiel des Klimawandels. Er gehört zu den allergrössten aktuellen Herausforderungen. Das spüren und wissen die Menschen auf allen Kontinenten, in jedem einzelnen Land. Und sie verlangen Antworten von ihren Regierungen.
Demokratisch gewählte Regierungschefs müssen ihr Ohr am Puls ihrer Wählerinnen und Wähler haben.
Es ist keineswegs so, dass autoritäre Regime diese Antworten liefern und die demokratischen nicht. Ich bin sogar überzeugt, dass langfristig Demokratien besser imstande sind, die Erwartungen der Bevölkerung zu befriedigen. Denn demokratisch gewählte Regierungschefs müssen ihr Ohr am Puls ihrer Wählerinnen und Wähler haben.
Das Gespräch führt Fredy Gsteiger.