Millionen von Britinnen und Briten kämpfen gegen den Niedergang ihres Lebensstandards. Die Teuerung gerät ausser Kontrolle. Die Kosten für Strom und Gas gehen durch die Decke, und das staatliche Gesundheitswesen steht vor dem Kollaps.
Wie bloss den nächsten Winter überstehen? Diese Sorge treibt Millionen von Leuten um im Vereinigten Königreich. Doch die Regierungspartei war in den vergangenen Wochen in erster Linie mit sich selbst beschäftigt.
Viele Schlagworte, wenig Inhalt
Mit der Wahl von Liz Truss wird das Machtvakuum wieder gefüllt. Die bisherige Aussenministerin ist mit der Downing Street bestens vertraut. Die 46-jährige Ökonomin diente bereits in drei konservativen Regierungen. Sie wird von Weggefährten als ehrgeizig und geschickt beschrieben. Sie verfüge insbesondere über die zweifelhafte Gabe, den Leuten zu sagen, was diese gerne hören.
«Freiheit», «weniger Staat» und «Steuersenkungen» lautete ihr Mantra in den vergangenen Wochen. Diese Schlagworte mit Inhalt zu füllen, ist ihr dabei weniger gelungen. Selbst konservative Fraktionskollegen kritisieren sie dafür. Steuersenkungen zu versprechen, ohne die Konsequenzen aufzuzeigen, sei fahrlässig. Dies könne nur jemand, der Ferien von der Realität nehme, meinte der frühere Kabinettsminister Michael Gove.
Ein vermögendes und mehrheitlich betagtes «Selektorat»
Trotzdem ist Truss gewählt worden. Wohl auch deshalb, weil das «Elektorat» dieser Wahl ebenso wenig die Realität repräsentiert. Die Parteibasis der konservativen Partei ist eher ein «Selektorat». Ein ausgewähltes, vermögendes und mehrheitlich betagtes Publikum. Die 160'000 Parteimitglieder repräsentieren einen Bruchteil der 70 Millionen Menschen in Grossbritannien.
Diese Klientel ist weniger damit vertraut, wie Hafenarbeiter ihre Gasrechnungen bezahlen. Sie schätzt es jedoch, wenn Liz Truss energisch verspricht, Migranten nach Ruanda auszuschaffen, woken Linken den Kampf anzusagen und sich nicht entscheiden kann, ob Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nun ein Freund oder Feind ist.
Weshalb ist Rishi Sunak auf der Strecke geblieben? Vor einem Jahr war der damalige Schatzkanzler immerhin noch der populärste Minister der Regierung Johnson. Vor einem Jahr sah die Welt eben noch anders aus. Es herrschte kein Krieg und Gasrechnungen waren noch bezahlbar.
Mittlerweile gilt der Technokrat, der vor Schulden und einfachen Antworten warnt, als zögerlicher Verwalter des Niedergangs.
Die Ferien von der Realität sind vorbei
Liz Truss dagegen verkörpert für viele die Optimistin, die dem depressiv verstimmten Land den nötigen Adrenalinstoss versetzt.
Sie hat in den vergangenen Wochen mehrfach versprochen, die Dinge besser zu machen. Dies wird nötig sein. Die Ferien von der Realität sind vorbei.
Ab heute muss die neue Premierministerin nicht mehr allein dem «Selektorat» gefallen, sondern das «Elektorat» überzeugen. Jene Millionen von Britinnen und Briten, die nicht wissen, wie sie den nächsten Winter überstehen. Und damit jene Millionen Stimmen, die sie bei den nächsten Parlamentswahlen benötigt, wenn sie an der Macht bleiben will.