Vor etwa einem Monat sorgte eine Studie zum Coronavirus in Deutschland für viel Aufsehen: die «Heinsberg-Studie». Die Forscher wollten herausfinden, wie viele Menschen sich tatsächlich mit dem Coronavirus angesteckt hatten – wie hoch also die Dunkelziffer ist. Sie untersuchten dazu einen Ort, der schwer von Covid-19 betroffenen war.
Die Ergebnisse, die sie vor einem Monat präsentierten, waren erst Zwischenergebnisse, also vorläufige Daten. Sie taten dies Seite an Seite mit dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und sagten, die Studie liefere Argumente für eine Lockerung der Massnahmen gegen Corona.
Dies wurde von vielen Expertinnen und Experten als unseriös kritisiert. Nun ist die fertige Studie veröffentlicht worden.
Ernüchterung nach der Karnevalssause
Gangelt im nordrheinwestfälischen Kreis Heinsberg hat fast 13'000 Einwohner. Noch Mitte Februar feierte man dort kräftig Karneval. Das Coronavirus feierte mit und verbreitete sich stark. In der Folge verzeichneten Spitäler und Testzentren etwa drei Prozent positive Fälle. Doch wie hoch ist die tatsächliche Durchseuchung? Und wie viele Infizierte haben gar keine Symptome?
Diese wichtigen Fragen untersuchten Forscher der Universität Bonn um den Virologen Hendrik Streeck. Ihre Studie an etwas über 900 Einwohnern Gangelts zeigt nun: Die Durchseuchungsrate liegt bei 15.5 Prozent und etwa 20 Prozent aller Infizierten blieben ohne Symptome. Die tatsächliche Fallzahl in Gangelt war also rund fünf Mal höher als die behördlichen Virentests angezeigt hatten.
Weit entfernt von «Herdenimmunität»
Diese Zahlen hatten die Bonner Forscher vor einem Monat bereits veröffentlicht. Nun kann man aufgrund der nachgereichten Studie sagen: Die Zahlen haben sich bestätigt und sind solide. 15.5 Prozent Durchseuchung bedeutet: Auch an einem besonders schwer von Covid-19 betroffenen Ort wie Gangelt hat erst eine Minderheit die Krankheit durchgemacht, man ist von der sogenannten Herdenimmunität selbst hier noch weit entfernt. Das heisst: Es braucht noch lange Massnahmen gegen eine Weiterverbreitung des Virus.
Die Forscher haben noch eine andere Zahl bestimmt: die tatsächliche Sterblichkeitsrate unter Corona-Infizierten. Sie kommen in Gangelt auf 0.36 Prozent. Das klingt nach wenig, wenn man an frühere Schätzungen von ein bis zwei Prozent denkt. Bereits gibt es in den sozialen Medien Stimmen, die sagen: «Ist ja doch nicht so schlimm». Sollte die Zahl von 0.36 stimmen, wären das aber immer noch fast vier Mal mehr als bei einer schweren Grippe-Epidemie.
Unsichere Datenlage
Ein kritischer Blick auf die Studie lässt aber Zweifel aufkommen an diesen Berechnungen. Gangelt ist ein kleiner Ort – und es liegen den Berechnungen nur sieben Tote zugrunde. Wären zufälligerweise nur ein bis zwei Menschen mehr gestorben oder haben die Behörden einige Corona-Tote übersehen, die zuhause gestorben sind, ohne getestet worden zu sein, sähe diese Sterblichkeitsrate ganz anders aus. Auch ein Ausbruch in einem Altersheim hätte die Rate empfindlich beeinflusst. Kurz: die Studie ist zu klein, um verlässliche Zahlen für die Sterblichkeitsrate zu liefern.
Die Forscher um den Virologen Streeck haben sich nach der heftig kritisierten voreiligen Informationsveranstaltung vor einem Monat ein weiteres Mal stark aus dem Fenster gelehnt.