Mein Kameramann und ich starten am frühen Morgen in Tokio und fahren auf der Autobahn Richtung Fukushima. Die Fahrt dauert rund viereinhalb Stunden. Es ist Anfang März und bald jährt sich das schwere «Tohoku-Erdbeben» – wie es die Japaner nennen – bereits zum zehnten Mal. Unsere Reise gilt der Gegend rund um das AKW Fukushima Daiichi. Jenes AKW, in dem wegen des Tsunami vom 11. März 2011 der Strom ausfiel, die Kühlung versagte und es dann zum GAU – zum grössten anzunehmenden Unfall – kam. Radioaktives Material trat aus und verstrahlte weite Gebiete.
Auf der Fahrt werden Erinnerungen wach. Der 11. März 2011 ist noch immer sehr präsent. Es war 14:46 Uhr als die Erde bebte und obschon das Epizentrum damals vor der Küste der Präfektur Miyagi lag, schwankten auch im 370 km entfernten Tokio die Häuser sehr stark. Doch es waren damals nicht die Erschütterungen, die grossen Schaden verursachten, sondern es war der gewaltige Tsunami. Die Flutwelle wälzte alles nieder und riss die Menschen in den Tod. Die ersten Meldungen über das AKW Fukushima Daiichi tönten damals harmlos. Kurz später zeigte sich jedoch, dass es deutlich schlimmer war.
Temporäre Arbeiter für den Wiederaufbau
Um die Mittagszeit erreichen wir Tomioka. Der Ort liegt etwa 10 Kilometer vom AKW Fukushima Daiichi entfernt und ist selber ein AKW-Standort. Hier erzeugte bis zum 11. März 2011 Fukushima Daini Strom. In dieser Anlage konnte der Gau verhindert werden, doch aus Sicherheitsgründen werden auch diese Reaktoren nie mehr ans Netz gehen. Der Bahnhof und die meisten Gebäude sind neu. Doch fertig sind die Bauarbeiten nicht.
Zwischen dem neu erstellten Wall an der Küste – der künftige Tsunami davon abhalten soll, den Ort erneut zu zerstören – und dem neuen Bahnhofsgebäude schaufeln und baggern einige Arbeiter. Wir stoppen beim Einkaufszentrum, hier gibt es neben dem Supermarkt einen grossen Baumarkt. Baumärkte findet man hier in der Umgebung viele – nicht verwunderlich bei dem noch immer hohen Bedarf an Baumaterialien. Einige Imbisse bieten Essen an. Wir entscheiden uns für eine Bento – eine typische japanische Mittagsbox. Auf meiner steht «extra-gross». Es ist eine Portion für die Durchschnittskunden – die Handwerker und Bauarbeiter, welche mit dem Wiederaufbau beschäftigt sind.
Einer von ihnen ist Dai Mori. «Das Gehalt ist hier höher als in meiner Heimat», meint der 28-Jährige. Deshalb sei er für einige Monate in die Region gekommen. Danach wolle er in den Südwesten zurück. Mori ist nicht der einzige temporäre «Bewohner» in der Region. Alleine im AKW Fukushima Daiichi arbeiten jeden Tag rund 5000 Personen. Viele von ihnen sind befristet angestellt, genau wie viele der übrigen – mit den Säuberungs- und Wiederherstellungsarbeiten beauftragten – Handwerker ausserhalb des AKW Geländes.
Solar- statt Atomstrom
Nach dem Mittagessen treffen wir in der Nachbargemeinde Okuma Seiichi Suzuki. Er ist Berater von «Fukushima-Power». Die Firma betreibt seit ein paar Jahren rund ums AKW Fukushima Daiichi mehrere Solaranlagen. Eine davon knapp sieben Kilometer vom AKW entfernt. Über die Gipfel der Bäume können wir die Kräne beim AKW sehen.
Das Land für die Solaranlagen hat die Firma von den Bauern gepachtet. Wo früher Reis angebaut wurde, wird heute Solar-Strom produziert. Die Felder wurden zwar sogenannt «dekontaminiert» – also gesäubert. Dazu wurde die Erde mehrere Zentimeter abgetragen und durch neue ersetzt. Gemäss der Regierung seien die Felder heute sicher. Doch viele Bauern ziehen es trotzdem vor, ihr Land nicht selber zu bebauen, sondern an die Solargesellschaft zu verpachten.
Für die Bürger der Präfektur gehören Kernkraftwerke der Vergangenheit an.
Vor dem GAU wären solche Solaranlagen hier wohl kaum denkbar gewesen, denn die Region setzte praktisch ausschliesslich auf Atomstrom. Als Standortgemeinde von Fukushima Daiichi mit seinen sechs Reaktoren war das AKW für die Gemeinde eine wichtige und sichere Einnahmequelle. Nun habe aber ein Umdenken stattgefunden, meint Suzuki: «Für die Bürger der Präfektur gehören Kernkraftwerke der Vergangenheit an. Wir wollen eine Gesellschaft ohne Atomkraft. Es mag Argumente geben, dass in grösseren Gebieten Japans noch immer Kernkraftwerke benötigt werden, doch die Bewohner von Fukushima wollen dies nicht mehr.»
Die Zeit ist stillgestanden
Wenige hundert Meter entfernt von der Solaranlage gibt es eine der zahlreichen Sperrzonen. Hier ist die Strahlung noch immer zu hoch für eine Rückkehr. Grosse Gitter versperren die Zufahrtsstrassen in diese Gebiete. Bei einem der Gitter stehen einige Getränkeautomaten. Die Anzeige ist vergilbt, der Rost nagt am Metall und einige Schlingpflanzen haben sich an und in den Automaten ausgebreitet.
Der mitgebrachte Geigerzähler steigt auf 3.5 Mikrosievert pro Stunde. Der von der internationalen Atomenergieagentur IAEA empfohlenen Wert liegt bei einem Millisievert (1000Mikrosievert) pro Jahr. Das heisst, wenn sich die Menschen hier das ganze Jahr aufhalten würden, wäre der empfohlene Grenzwert gut 30-mal überschritten.
Die Menschen mussten damals fluchtartig ihre Häuser verlassen. Sie hofften schnell wieder zurückkehren zu können. Doch daraus wurde nichts. Nun sind viele Häuser am Zerfallen. Durch die zerbrochenen Fenster und kaputten Türen sehen wir in gespenstig wirkende Küchen, Wohn- und Esszimmer. Zerrissene Vorhänge flattern im Wind.
Neue Häuser für ein neues Leben
Vor dem 11. März 2011 zählte die Gemeinde Okuma gut 11'000 Einwohner. 45 von ihnen starben in den Fluten des Tsunami, eine Person gilt noch immer als vermisst. Die Wassermassen zerstörten oder beschädigten 150 Häuser.
Doch wegen des Unfalls im AKW Fukushima Daiichi mussten sämtliche Bewohner flüchten. Erst nach und nach wurden Teile des Ortes dekontaminiert und die Menschen durften in die gesäuberten Gebiete zurückkehren. Für die Rückkehrer stehen in der neu geschaffenen Bau- und Wohnzone günstige – mit Staatsgeldern gebaute – Einfamilienhäuser zur Verfügung.
Doch von den früheren Bewohnern sind bisher nur rund 300 zurückgekehrt – die meisten von ihnen im Pensionsalter. Junge Menschen kehren kaum zurück.
Ich bin hier verwurzelt und möchte Okuma zu einer lebendigen Stadt machen
Eine Ausnahme bildet Makiko Sato. Sie war 2011 noch Schülerin. Nach ihrer Ausbildung kehrte sie vor gut einem Jahr nach Okuma zurück und arbeitet nun auf der Gemeindeverwaltung. «Ich bin hier verwurzelt und möchte Okuma zu einer lebendigen Stadt machen», erklärt die heute 24-Jährige zuversichtlich. «Wenn ich könnte, würde ich gerne in der Welt herumreisen, andere Kulturen kennenlernen und die Erfahrungen nach Okuma zurückbringen, um die Stadt zu verbessern.»
Sie weiss, es ist ein schwieriger und weiter Weg für Okuma. Die Unsicherheit wegen der Strahlung ausserhalb der dekontaminierten Zonen bleibt, und die Infrastruktur erst am Entstehen. Der erste Supermarkt wird in den kommenden Wochen eröffnet werden, die neue Mehrzweckhalle befindet im Bau.
Iitate wird sterben
Unsere letzte Station auf der Reise gilt einem Besuch der Gemeinde Iitate. Sie liegt im Nord-Westen des zerstörten AKWs. Der Wind wehte 2011 die radioaktiven Partikel in diese Richtung und entsprechend wurde die gut 30 Kilometer entfernte Gemeinde verstrahlt. Der südlichste Teil von Iitate ist noch immer Sperrgebiet. In die meisten andern Teile dürfen die Menschen zurückkehren. An mehreren Orten stapeln sich in Zwischenlagern schwarze Säcke. In ihnen befindet sich die von den Gärten und Feldern abgetragene Erde.
Wir treffen Nobuyoshi Ito. Er zog 2009 nach seiner Pensionierung nach Iitate und fand eine neue Aufgabe als Manager in einem Trainingszentrum für Landwirtschaft. Heute analysiert der 77-Jährige auf Eigeninitiative Boden- und Lebensmittelproben der Region.
Ito nimmt uns mit auf einen Rundgang durch sein Dorf. Der erste Halt gilt der neuen Schulanlage. «Hier und auch im Umkreis von 20 Metern des Grundstücks wurde alles dekontaminiert», erklärt Ito. Der Geigerzähler zeigt eine tiefe Belastung von 0.1 Mikrosievert pro Stunde. Wir gehen zur 20 Meter Marke, der Geigerzähler steigt auf ein Mikrosievert pro Stunde. Hochgerechnet liegt der Wert rund neunmal über den von der IAEA empfohlen Dosis.
Wir fahren auf einem engen Strässchen durch den Wald bis zwei Wachleute an einem Kontrollposten die Weiterfahrt verunmöglichen. Hier beginnt die Sperrzone von Iitate. Der Wert auf dem Geigerzähler steigt auf zwei Mikrosievert pro Stunde.
Ich bin schon alt, bis es zu allfälligen Folgen der radioaktiven Strahlung käme, bin ich eh schon gestorben.
«Gerade der Wald kann nicht dekontaminiert werden», erklärt Ito. «Es ist sehr unterschiedlich, wie die einzelnen Menschen das Risiko einstufen. Ich persönlich denke nicht, dass Iitate für jüngere Menschen ein zum Wohnen geeigneter Ort ist.» Er sei schon alt, bis es zu allfälligen Folgen der radioaktiven Strahlung käme, sei er eh schon gestorben.
Er lädt uns zu einer Tasse Kaffee zu sich nach Hause ein. Sein Arbeitszimmer hat er zu einem Labor ausgebaut. Sein «Heimlabor» im Arbeitszimmer des Hauses. «Ein Universitätsprofessor hat mir den Strahlenspektrometer ausgeliehen, da ich für ihn regelmässig Proben vornehme», erklärt uns Ito und füllt Erde vom nahe gelegenen Hügel in ein Plastikgefäss. «Von dieser Probe erwarte ich keine Extremwerte», meint er, tippt die Daten in den Computer und die Probe in den Strahlenspektrometer.
Kurz später erscheint die Auswertung auf dem Bildschirm. «Cäsium 134 wird immer weniger und liegt nun bei 1110 Bq. Es wird verschwinden. Doch bei Cäsium 137 liegt der Wert noch immer bei 23'000 Bq. Das ist 1000-mal mehr als vor dem Unfall. Cäsium 137 hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren, daher dauert es 300 Jahre, bis man hier wieder normal leben kann.»
Eine Zukunft für Nobuyoshi Iitate sieht Ito nicht. «Der Ort wird sterben. Doch das ist nicht nur mit Itate so, das betrifft in Japan viele ländliche Gebiete mit einer überalternden Gesellschaft. Ohne AKW-Unfall wäre es vielleicht in 20 oder 30 Jahren geschehen. Wegen des AKW-Unfalls tritt das Ganze nun 10 bis 20 Jahre früher ein», meint er nüchtern beim Abschiedskaffee.