Nahostkrise, Energiekrise, Klimakrise – es herrscht geradezu «Polykrise». Damit ist die Situation von mehreren Krisen gleichzeitig gemeint, die das Geschehen bestimmen. Doch: Dreht sich die Welt tatsächlich in den Abgrund, oder sieht das nur so aus? Einer, der mehr dazu weiss, ist Frank Roselieb. Er beschäftigt sich professionell mit dem Thema.
SRF News: Ist es tatsächlich so, dass wir heute mehr Krisen haben als früher?
Frank Roselieb: Die Zahl der Krisenfälle in den deutschsprachigen Ländern ist in den vergangenen 40 Jahren ziemlich konstant geblieben. Früher hatten wir allerdings mehr operative Krisen – Flugzeugabstürze oder Hotelbrände –, heute stellen wir mehr kommunikative Krisen wie etwa Shitstorms fest. Heute ist die Wahrnehmung von Krisen viel stärker als noch vor einigen Jahrzehnten.
Wird heute der Begriff Krise also quasi inflationär benutzt?
Früher galt ein Ereignis erst als Krise, wenn viele Menschen getötet und verletzt wurden. Heute hat man von diesem Bodycount Abschied genommen – es gibt also kein hartes Mass mehr, wann ein Ereignis eine Katastrophe oder Krise ist.
So neu sind die derzeitigen Krisen nicht.
Ausserdem wiederholen sich manche Krisen: Pandemie – Krieg – Naturkatastrophen. Dasselbe hatten wir schon vor 20 Jahren, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge: Am Ende dieser Serie war 2002 die Pandemie mit Sars, zuvor gab es im Sommer 2002 schwere Hochwasser an der Elbe, davor den Zusammenbruch der New Economy und im September 2001 die Terroranschläge in New York und auf das Pentagon. Die Terroristen schlugen dann auch in Madrid oder London zu. So neu sind die derzeitigen Krisen also nicht.
Warum wird heute in dem Fall rascher und häufiger von einer Krise gesprochen?
Früher dauerte es länger, bis man eine Krise wahrgenommen hat – und die nächste und die übernächste. Damals hat man am Abend vor dem Fernseher erstmals mitbekommen, dass etwas passiert war. Am nächsten Tag stand dazu dann etwas in der Zeitung.
Heute hat man das Gefühl, eine Krise jage die nächste.
Heute gibt einem das Handy ständig Alarmmeldungen, dass dies oder das passiert sei. Dabei ist die Schwelle für eine solche Eilmeldung relativ tief. Entsprechend hat man das Gefühl, dass eine Krise die nächste jage und man gar nicht mehr dazukommt, durchzuatmen. Angesagt wäre also eine Art kollektives Debriefing. Doch solche Signale fehlen derzeit.
Kann die Krise auch zum Dauerzustand werden?
Eigentlich nicht. Denn man versucht ja jeweils, eine Krise zu überwinden. Zudem haben wir im Körper einen Mechanismus eingebaut, um uns gegen die Krisen zu stemmen. Das sind die drei R: Resilienz, Redundanz und Robustheit. Dank dieser Automatismen lösen sich viele Krisen irgendwann quasi von selbst.
Was kann man angesichts des vorherrschenden Gefühls der Dauerkrise tun, um robust zu bleiben?
Man muss Menschen in Krisenzeiten kommunikativ mitnehmen. Eine Art Krisenmanager muss ihnen also den Weg zeigen, damit sie immer wieder Mut fassen können – das nennt man den Silberstreifen am Horizont. In der Krise sind also Kommunikation und Führung wichtig, ebenso ein gewisses Grundmass an Optimismus.
Man sollte den Grundoptimismus nicht verlieren – es ist ja noch jedes Mal gut gegangen.
Ich habe in meiner mehr als 25-jährigen Tätigkeit als Krisenmanager mehrere Pandemien oder Flugzeugabstürze erlebt und bei der Bewältigung und Aufarbeitung der Krise geholfen. Bislang ist das noch jedes Mal gut gegangen – egal, ob es Kriege oder Wirtschaftskrisen waren. Diesen Grundoptimismus sollte man nicht vergessen – und nicht verlieren.
Das Gespräch führte Amir Ali.