Ein Wort fiel immer wieder in der Rede zur Ankündigung des diesjährigen Friedensnobelpreises: Tabu. Der Einsatz von Atomwaffen müsse ein Tabu bleiben, betonte in Oslo Jörgen Watne Frydnes, der Vorsitzende des Nobelpreiskomitees. Deshalb gehe der Preis an Nihon Hidankyo, eine japanische Organisation, die sich für die Überlebenden der bisher einzigen Atomwaffeneinsätze in einem Krieg einsetzt.
1945, im Zweiten Weltkrieg, zerstörten die USA mit zwei Atombomben die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Sofort kamen schätzungsweise 120‘000 Menschen ums Leben, ähnlich viele Menschen starben später an Verbrennungen und Verstrahlungen. Die Erzählungen der – letzten – Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki seien ein Plädoyer, dass Atomwaffen nie wieder zum Einsatz kommen dürften.
Angst vor Atomkrieg
Die Vergabe kommt nicht von ungefähr. Immer wieder wurde der Friedensnobelpreis Organisationen zugesprochen, die sich für Abrüstung und gegen Massenvernichtungswaffen einsetzen. Im kommenden Jahr jähren sich die Katastrophen von Hiroshima und Nagasaki zum 80. Mal – in einer Zeit, in der viele Menschen auf der ganzen Welt Angst haben vor einem neuerlichen Atomkrieg.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ist der Auffassung, der Einsatz von Atomwaffen wäre in jedem Fall illegal, weil er einem Grundprinzip des Kriegsvölkerrechts widerspricht, nämlich der Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen. Wenigstens schien man sich lange Zeit einig, dass der Besitz von Atomwaffen, wenn überhaupt, nur einen legitimen Zweck haben kann: die Abschreckung. Und dass ein Staat, wenn überhaupt, nur im Kampf ums eigene Überleben solche Waffen einsetzen dürfte.
Schrittweise Enttabuisierung
Doch gerade sind wir Zeugen einer schrittweisen Enttabuisierung der Atomwaffen. Allen voran verantwortlich dafür ist der russische Präsident Wladimir Putin. Er führt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine und nutzt seine Atomwaffen, um all jene Staaten einzuschüchtern, die der Ukraine in ihrem Überlebenskampf militärisch beistehen.
Immer wieder lässt er Bemerkungen fallen, die Menschen in Angst und Schrecken versetzen und die Regierungen von der Unterstützung der Ukraine abhalten sollen. Putin verwandelt die Atombombe von der militärischen Defensiv- zur psychologischen Offensivwaffe.
Zeit der Abrüstung ist vorbei
Zur Enttabuisierung passt, dass die Zeit der Abrüstung vorbei ist: Die Atomwaffenstaaten Russland, die USA, China und sechs weitere vergrössern und modernisieren ihre Arsenale. Dazu passt auch, dass sogenannt taktische Atomwaffen entwickelt werden für den «begrenzten» Einsatz auf dem Schlachtfeld. Dabei geht gerne vergessen, dass viele dieser taktischen Atomwaffen eine ähnlich grosse Zerstörungskraft hätten wie jene Bombe, die 1945 auf Hiroshima niederging.
Die Enttabuisierung der Atomwaffen schreitet also voran, das norwegische Nobelpreiskomitee wird sie nicht aufhalten können. Mit dem diesjährigen Friedensnobelpreis will es die Enttabuisierung zumindest an den Pranger stellen.