Mit dem Rücktritt von Kanzler Sebastian Kurz sei Österreichs Regierungskrise zwar unterbrochen, aber noch nicht beendet. Denn Kurz sei zwar politisch schwerst angeschlagen, doch die ÖVP habe keinen Plan B, sagt der österreichische Politikwissenschafter Peter Filzmaier.
SRF News: Lange hatte sich Kurz gegen den Rücktritt gestemmt. Gestern Abend lenkte er dann doch ein, warum?
Peter Filzmaier: Der Rücktritt ist der Versuch einer Lösung, mit der Sebastian Kurz und die Regierung leben können und müssen. Nur schon, weil alle anderen Lösungen nicht machbar gewesen oder extrem unsicher wären. Wäre Kurz im Amt geblieben, hätte sich eine Mehrheit in einem Misstrauensvotum im Parlament gegen ihn gefunden. Er hätte trotzdem sein Amt verloren.
Kurz ist in einer Schlüsselposition und stellt sich irgendwann die Frage, ob er als Klubobmann haltbar ist.
Da die ÖVP sich aber auf seine Seite gestellt hat, wäre die gesamte Regierungsbewältigung der ÖVP infrage gestellt gewesen. Die Grünen haben sich als Partner formal zwar durchgesetzt, sie haben aber Kurz weiter als mächtigen Mann in der ÖVP akzeptieren müssen. Denn der Klubobmann ist unabhängig von der formalen Reihenfolge vielleicht sogar gleich mächtig wie der Kanzler, weil er alle Abgeordneten der ÖVP hinter sich hat.
Die Grünen und die ÖVP regieren nun weiter. Ist die Regierungskrise damit beendet?
Die Regierungskrise ist zumindest unterbrochen. An einem Ende darf man aber Zweifel haben. Der Regierung hilft jetzt ein zeitlicher Zufall. Man hat kurz vor der aktuellen Regierungsbildung die Verhandlungen abgeschlossen und eine ökosoziale Steuerreform beschlossen. Diese kann man nun im Parlament finalisieren, ohne neuen Verhandlungsbedarf. Es dauert bis zu den neuen Streitthemen also ein bisschen.
Kurz wird ÖVP-Fraktionschef und bleibt Parteichef der stimmenstärksten Partei Österreichs – trotz der laufenden Korruptionsermittlungen gegen ihn. Kann das funktionieren?
Es ist ein Spiel auf Zeit. Kurz betont immer wieder, er werde alle Vorwürfe aufklären. Das ist zeitlich aber nicht so bald realistisch. Es wird Monate dauern, bis entschieden wird, ob wegen Korruptionsdelikten gegen ihn Anklage erhoben wird. Sollte es zu einer Anklage kommen, dauert der Prozess mit allen Berufungsinstanzen Jahre. Da ist Kurz in einer Schlüsselposition und es stellt sich irgendwann die Frage, ob er als Klubobmann haltbar ist.
Bisher stärkt ihm seine Partei den Rücken. Kann die ÖVP nicht ohne Kurz?
Die ÖVP hat keinen Plan B. Es gibt intern wahrscheinlich schon Gegenstimmen gegen Kurz. Doch niemand kann derzeit einen anderen Parteichef oder eine andere bundespolitische Strategie präsentieren. Deshalb wartet man ab. Für die ÖVP in den Länderorganisationen ist das deshalb möglich, weil 2022 keine Regionalwahl sind, nur die Bundespräsidentschaftswahl und das ist eine Personenwahl. Erst 2023 finden wieder Regionalwahlen statt. Bis dahin wird man in den mächtigen Länderorganisationen abwarten, ob Kurz aus dem Schussfeld gerät.
Sebastian Kurz hat bei Wahlen immer schon von der Polarisierung gelebt.
In der Politik ausserhalb der ÖVP hat Kurz den Rückhalt verloren. Wie sieht das in der Bevölkerung aus?
Sebastian Kurz hat bei Wahlen immer schon von der Polarisierung gelebt. Dieses Bild zeigt sich auch jetzt. Die Strategie der Polarisierung ist ja verständlich für einen Spitzenkandidaten, weil er so seine Anhänger überzeugen kann. In der Kanzlerfunktion ist das ein gesellschaftliches Problem, aber es ist das jetzige Stimmungsbild. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der unter Missachtung der Unschuldsvermutung ruft: «Hängt ihn höher». Und es gibt die Kurz-Anhänger, die alles von Vorhinein nur als Verschwörung und Verleumdung sehen.
Ist das das Ende eines politischen Wunderkinds?
Möglicherweise ist die Entscheidung, ob dies das politische Ende von Kurz ist, formal bis 2024 verzögert. Das ist der Termin für die nächste Nationalratswahl. Dann ist die Frage, ob Kurz wieder Spitzenkandidat sein wird, in welcher Funktion auch immer. In Anbetracht der Länge der Ermittlungen kann es durchaus so lange dauern. Kurz ist jetzt aber politisch schwerst angeschlagen und mit einer Niederlage behaftet.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.