Noch tags zuvor hatte Sebastian Kurz keinen Zweifel daran gelassen, dass ein Rücktritt für ihn kein Thema sei. Am Samstag kam die 180-Grad-Wende. Am Abend um 19.40 Uhr erklärte er seinen Rücktritt. Er übernimmt den Posten des Fraktionschefs seiner Volkspartei, bis die Vorwürfe gegen ihn vom Tisch seien. Doch die Chancen, dass er als Kanzler zurückkommt, sinken von Tag zu Tag.
Kehrtwende innert 24 Stunden
Kurz war aufgrund der Ermittlungen der Korruptionsstaatsanwaltschaft zunehmend unter Druck geraten. Gestern hatte seine Koalitionspartnerin, die Grüne Partei, erklärt, er sei nicht mehr amtsfähig und hatte gefordert, dass Kurz als Kanzler ersetzt werde. Das hatte die Volkspartei abgelehnt. Doch warum diese Kehrtwende nur 24 Stunden später?
Wäre der Kanzler stur geblieben, hätte er seine Abwahl am Dienstag provoziert und seine gesamte Regierung mit in den Abgrund gerissen. Offenbar haben die Granden der Volkspartei – die ihm gestern noch den Rücken stärkten – Kurz hinter den Kulissen zum Einlenken bewogen. Denn dieser brachte die Partei in die Zwickmühle.
Angesichts der ständig neuen Enthüllungen über ihn und seine Vertrauten hätte er kaum einen erfolgreichen Wahlkampf führen können. Und sogar im Falle eines Sieges in (nun abgewendeten) Neuwahlen hätte Kurz wahrscheinlich kaum mehr Koalitionspartner gefunden. Die Partei hätte sich in eine Sackgasse manövriert.
Kurz als «Schattenkanzler»?
Damit kann die konservativ-grüne Regierung wohl nach der Sondersitzung des Parlamentes am Dienstag weiterregieren. Der grüne Vizekanzler Werner Kogler hat bereits grünes Licht gegeben, mit dem neuen Kanzler Alexander Schallenberg weiterarbeiten zu wollen.
Die Opposition murrt zwar, das «System Kurz» bleibe im Amt. Kurz könne als «Schattenkanzler» weiterhin die Fäden ziehen. Tatsächlich bleibt seine ÖVP die mächtigste Partei Österreichs. Doch ob Kurz als Kanzler jemals ein Comeback geben wird, ist höchst ungewiss.
Kurz hat zwar in seiner Erklärung einmal mehr seine Unschuld beteuert. Doch wer die Anordnung der Korruptionsstaatsanwaltschaft WKStA für die Hausdurchsuchungen im Kanzleramt, im Finanzministerium und in der Parteizentrale der ÖVP liest, bekommt Zweifel. Das 104 Seiten dicke Papier strotz vor Beweisen gegen Kurz und seine Vertrauten.
Wunschdenken gegen Realität
Dort stehen Hunderte von SMS-Nachrichten, gefunden auf den beschlagnahmten Handys der Verdächtigten. Schwarz auf Weiss, und auch durch die besten Verteidiger kaum zu entkräften. Kurz hatte am Mittwoch noch erklärt, keines dieser SMS beweise etwas gegen ihn. Doch wer die SMS liest, merkt bald, dass das eher Wunschdenken als Realität ist.
Der heutige Rücktritt markiert wohl den Anfang vom Ende der politischen Karriere von Sebastian Kurz. Von einem der talentiertesten Politiker der Gegenwart. Ein Ausnahmepolitiker, der letztlich über seinen unbändigen Ehrgeiz und seinen Machthunger stolperte.
Peter Balzli
Österreich- und Osteuropa-Korrespondent
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Peter Balzli hat Wirtschaft und Medienwissenschaften in Bern und Berlin studiert. Danach absolvierte er die Ringier-Journalistenschule und begann 1995 beim SRF zu arbeiten. Bevor er zwischen 2001 und 2013 als SRF-Korrespondent aus Paris und London berichtete, arbeitete Balzli 2000 bis 2001 als Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Seit 2016 ist Peter Balzli Österreich- und Osteuropa-Korrespondent.
Vom jungen Polit-Talent zum gefallenen Kanzler
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Erstmals öffentlich in ganz Österreich bekannt wird Sebastian Kurz, als er 2009 zum Vorsitzenden der ÖVP-Jugendorganisation gewählt wird.
Reuters
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Im Alter von 24 Jahren erlangt Sebastian Kurz 2011 sein erstes Regierungsamt: Er wird Staatssekretär für Integration. An der Seite des damaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer signiert er sein Dokument zur Amtseinführung.
Reuters
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Am 16. Dezember 2013 wird Kurz zum jüngsten Aussenminister der Geschichte Österreichs. Mit gerade einmal 27 Jahren beerbt er seinen Mentor Michael Spindelegger.
Reuters
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Legende:
Als Aussenminister versuchte Kurz 2015 während der Atom-Verhandlungen, zwischen den Ländern zu vermitteln. Im Bild der österreichische Präsident Heinz Fischer (Mitte) und der iranische Aussenminister Mohammad Javad Zarif.
Keystone/3.7.2015
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Legende:
2017 wird Kurz Parteichef der ÖVP und schneidet die Partei ganz auf seine Person zu. Mit der «neuen Volkspartei ÖVP» in türkiser Farbe gewinnt er Wahl um Wahl.
Reuters
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Im Dezember 2017 beerbt Kurz SPÖ-Politiker Christian Kern als Bundeskanzler. Seine ÖVP ist mittlerweile stärkste Kraft im Nationalrat, Kurz gerade einmal 31 Jahre alt.
Reuters
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Für seine erste Kanzlerschaft schmiedet Sebastian Kurz ein Regierungsbündnis mit der rechtspopulistischen FPÖ unter Heinz-Christian Strache.
Reuters
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Die Ibiza-Affäre bringt im Mai 2019 Strache zu Fall. Auf einem mit versteckter Kamera gefilmten Video schlug der FPÖ-Chef unaufgefordert vor, riesige Staatsaufträge im Austausch gegen illegale Parteispenden zu vergeben. Kurz beendet das Bündnis und wird kurz darauf durch ein Misstrauensvotum im Nationalrat als Kanzler gestürzt.
Keystone
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Im Herbst 2019 gewinnt die ÖVP die Neuwahlen. Anfang 2020 wird Kurz erneut zum Kanzler gewählt. Diesmal bildet er eine Koalition mit den Grünen unter Werner Kogler.
Reuters
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9. Oktober 2021: In einem kurzen Statement vor der Presse verkündet Sebastian Kurz seinen Rücktritt als Österreichs Kanzler. Nach Korruptionsermittlungen war der Druck zu gross geworden. Der 35-Jährige will aber ÖVP-Parteichef bleiben und Fraktionsvorsitzender im Nationalrat werden.
Reuters
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Legende:
Am 2. Dezember 2021 verkündet Kurz, dass er sich demnächst aus der Politik zurückziehen will. Seine Begeisterung sei kleiner geworden und die Geburt seines Sohnes habe ihm klargemacht, dass es Wichtigeres gebe, erklärte er den Schritt.
Keystone
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