«Dabei sein ist alles»? Für russische Athletinnen und Athleten hört sich das derzeit an wie blanker Hohn. Nur die USA haben an Olympischen Sommerspielen mehr Medaillen als Russland (und die ehemalige Sowjetunion) gewonnen. Nun tritt die stolze Sportnation mit einer Mini-Delegation in Paris an – und das unter neutraler Flagge. Der Grund ist der russische Angriffskrieg in der Ukraine.
Der Sportjournalist Ronny Blaschke sieht noch einen anderen Grund, warum nur so wenige Athletinnen und Athleten mit russischem Pass in Paris antreten: Wer den «Integritätscheck» des IOC besteht, dem droht in der Heimat die Integrität abgesprochen zu werden.
Putins Prestigeprojekte
«Dabei legt man in Putins Russland offiziell gar keinen grossen Wert auf die Olympischen Spiele», sagt der Sportjournalist. Die Betonung liegt dabei auf «offiziell»: Denn unter Putin hat Russland massiv in den Sport investiert und sah ihn viele Jahre als Vehikel, um dem Land Prestige zu verschaffen.
Wer sich in Russland gegen Putin stellt – auch nur zwischen den Zeilen – muss mit Konsequenzen rechnen.
«Russland wird die Abwesenheit an Olympia in Paris sehr kränken», schätzt Blaschke. «Dem Land ist eine grosse und wichtige Werbebühne abhandengekommen.»
In Russland wird Olympia unter den Teppich gekehrt: Kein heimischer TV-Sender überträgt die Spiele. Der Chef des Nationalen Olympischen Komitees bezeichnete die russischen Tennisstars, die in Paris antreten, als «Mannschaft ausländischer Agenten». Sie spielten für sich und nicht für Russland. Ohnehin verdienten sie ihr Geld im Ausland.
Nun droht die Karriere vieler russischer Sportlerinnen und Sportler zu versanden – wegen eines Krieges, für den sie nichts können. «Viele von ihnen hätten sehr gerne in Paris teilgenommen», sagt Blaschke. «Gerade diejenigen, die jetzt in ihren Zwanzigern sind, haben lange auf diesen Moment hin trainiert. Die Spiele in Paris und in vier Jahren in Los Angeles sind das Grösste überhaupt für einen Sportler.»
Aber wer sich in Russland auch nur zwischen den Zeilen gegen Putin stelle, müsse mit Konsequenzen rechnen. Und diese Konsequenzen könnten vom Verlust von Fördergeldern bis zu Gefängnis reichen. «Putin wird sich sehr darüber ärgern, dass doch einige Russinnen und Russen in Paris antreten.»
Diplomaten in Trainingsanzügen
Gleichzeitig gibt es auch russische Athletinnen und Athleten, die in den sozialen Medien für das Militär und den Krieg in der Ukraine trommeln. Blaschke nennt sie «Diplomaten in Trainingsanzügen», die schon bei früheren Grossereignissen ihre Nähe zum Kreml zelebriert hätten. «Viele machen das sicherlich auch, um weiterhin ihre Privilegien zu geniessen.»
Andere halten still und warten darauf, dass sich die Lage wieder normalisiert. Doch das könnte dauern. Bis dahin treten die Athletinnen und Athleten bei regionalen und nationalen Wettkämpfen an, in die der Kreml massiv investiert: «Damit soll das Narrativ aufgezogen werden, dass Russland den Westen nicht braucht», sagt Blaschke.
In solchen militaristischen Mega-Events sei der Sport zur «Selbstbehauptungsbühne» für die nationale Kultur geworden. Für die beteiligten Sportlerinnen und Sportler bleiben es aber Auftritte ohne jede internationale Strahlkraft – und damit für viele von ihnen ein leiser Abschied von der Bühne des Sports.