Wer Marco besuchen will, muss nach Police fahren, fast bis an die polnische Ostseeküste. Wer Marco besuchen will, muss an der Schranke vorbei, am Sicherheitsmann. Und zum Containerstapel am Rand der Baustelle laufen – winzig neben grell beleuchteten Türmen, die sich verlieren im Nachthimmel.
Im Container schläft Marco in einer Zelle. Vier Betten, vier Männer. Auf dem Grill dampft ein Eintopf aus Reis und Huhn. Und Marco sagt: «Meine Chefs haben mir gesagt, ich müsse hier arbeiten. Ich hatte keine Ahnung von Polen.»
Auf den Philippinen, zu Hause also, habe er eine gefütterte Jacke gekauft für das Leben hier. Marco war Elektriker in der Nähe von Manila, verdiente aber nie genug für sich, seine Mutter, die Schwester.
Dann schickte ihn eine südkoreanische Firma nach Polen auf die riesige Baustelle einer Plastikfabrik, die der staatliche polnische Konzern Grupa Azoty in Police in Nordpolen bauen lässt.
Jobs nur für Polen
Da und dort wird noch ausgebessert, zur Eröffnung spricht aber schon Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki: «Wir bieten hier tausende Jobs für bestens qualifizierte Leute.» Er meint: Jobs für Polinnen und Polen. Danach läuft ein Film, in dem es um die Menschen gehen soll, die das ermöglicht haben. Nur Polen und Polinnen kommen zu Wort. Plötzlich bricht der Film ab, eine technische Panne.
Über eine Milliarde Franken hat der Bau der Fabrik gekostet, wo bald Plastik gegossen wird für Polen und fürs Ausland, für Verpackungen, Autos, Spielzeuge. Gebaut haben das Plastikwerk tausende nicht so qualifizierte Menschen. Fast alle kommen von weit weg. Wie Marco. Darüber redet niemand an der Eröffnungsfeier, davon gibt es keine Filmszene. Als wären Marco und seine philippinischen Kollegen in den Containern auch eine Art Panne.
Arbeit ohne Urlaub
Letztes Jahr, erzählt Marco, sei seine Mutter auf den Philippinen gestorben. «Ich konnte nicht hinfahren zur Beerdigung, meine Firma hat es mir verboten.» Seit zwei Jahren arbeitet er in Polen, ohne einen einzigen Tag Urlaub. Ob er nach dem Ende des Baus hier Urlaub bekommt oder gleich weitermuss auf die nächste Baustelle, das entscheidet sein Arbeitgeber. Sechs Tage pro Woche arbeitet er, meistens zwölf Stunden am Stück. Am Sonntag ist die Arbeit freiwillig.
«Manchmal gehen wir trinken am Sonntag, aber meistens ruhen wir uns aus.» Denn krank werden möchte Marco auf keinen Fall. Er verdient nichts, wenn er nicht aufstehen kann. Und kann keinen Arzt rufen. Der Arzt, sagen Marco und seine Kollegen, komme höchstens, wenn sich jemand verletze.
Pro Stunde verdient Marco vier Franken. Das ist weniger als der polnische Mindestlohn. Legal ist es trotzdem gemäss polnischem Recht. Andere – aus der Ukraine – aber haben in Police illegal gearbeitet, ohne Arbeitsverträge, ohne Sozialbeiträge, für zu wenig Lohn. Die Staatsanwaltschaft ermittelt deswegen, wie Dokumente zeigen.
«Wir werden gut behandelt»
Zuständig für die Angestellten auf der Baustelle ist der südkoreanische Konzern Hyundai, er baut die Plastikfabrik im Auftrag Polens, für ihn arbeiten zahlreiche Sub-Unternehmen. Der staatliche polnische Konzern, dem hier alles gehört, antwortet auf Fragen von SRF, er habe nichts zu tun mit dem Personal auf der Baustelle.
Marco und seine Kollegen sind trotzdem zufrieden in Polen. Sie sagen, die Bedingungen seien viel besser als im Nahen Osten, wo sie auch schon gearbeitet haben, wo sie zum Beispiel ihren Pass abgeben mussten. Sie sagen, sie könnten viel Geld nach Hause schicken. Und sie sagen, die Polinnen und Polen behandelten sie gut. «Sie begrüssen uns, wann immer sie uns sehen.»
Gefahr für junge Frauen?
Die Menschen in Police sehen die Philippiner allerdings nicht oft. Das Städtchen ist einen Kilometer weit weg von der Baustelle. Backsteinerne polnische Provinz. Slawek ist mit Sohn und Pudel unterwegs zum Hundefriseur. «Die Philippiner stören die Leute im Allgemeinen nicht. Sie sind sehr kultiviert.»
Jola, die gerade aus einem Laden kommt, sieht das anders. «Eine Grossmutter hat mir erzählt, die Schwarzen machten auf dem Spielplatz Fotos von jungen Mädchen.» Ähnliche Geschichten habe sie im Internet gelesen. Die jungen Frauen in Police seien auf jeden Fall in Gefahr. Ausser Jola hat aber niemand solche Geschichten gehört.
Die Verkäuferinnen drinnen im Laden finden die Philippiner lustig. «Sie haben nach unseren Telefonnummern gefragt, zeigen uns Fotos ihrer Familien.» Sonntags kauften sie oft Poulet. «Und manchmal sind so viele von ihnen im Laden, dass man die Ware nicht mehr sieht vor lauter schwarzen Gesichtern.»
Heimat in der Kirche
Rund um die Kirche wächst üppig ein Garten. Hier steht das Haus von Waldemar Szczurowski, der Priester öffnet die Tür. «Jeden Sonntag sitzen die Philippiner in der Messe», sagt er. Wenn es kalt sei, kämen sie mit Jacke, Mütze und Flipflops an den Füssen. Trotz der Fremdheit, obwohl er nicht mit ihnen sprechen könne, seien sie ihm heute vertraut, sei er ihnen vertraut.
Ihre Familien zu Hause nähmen die heimwehkranken Männer mit in die Kirche, auf dem Handybildschirm. «Gebetet wird in Polen gleich wie auf den Philippinen.» In der Liturgie der katholischen Messe, sagt Priester Szczurowski, hätten Police und seine Philippiner eine gemeinsame Heimat entdeckt.
Einwanderung macht Wirtschaftswachstum möglich
Polens Regierung ist gegen Einwanderung, ausser bei Ukrainerinnen und Ukrainern. Aber die Wirtschaft des Landes wächst unaufhörlich, ungefähr doppelt so stark wie westeuropäische Volkswirtschaften im Schnitt. Gleichzeitig altert die Bevölkerung, es kommen immer weniger Kinder zur Welt. Nur Einwanderung macht deshalb das Wirtschaftswachstum möglich.
Noch ist die offizielle Haltung, man habe Arbeitskräfte gerufen. Aber wie früher in der Schweiz kommen auch nach Polen Menschen. Früher oder später werden viele von ihnen in Polen ein neues Zuhause finden. Wenn man schon nur die letzten Jahre vergleicht, ist Polen zumindest in den Städten sichtbar internationaler geworden.