Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin kritisierte Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, sie habe aus Migrationsthemen politisches Kapital geschlagen – aber sie sei unfähig, auf Migration angemessen zu reagieren.
Dieser aussenpolitische Affront hat einen innenpolitischen Hintergrund. Migration ist derzeit auch in Frankreich ein heisses politisches Thema, an dem sich die Regierung nicht die Finger verbrennen will.
Die Migration übers Mittelmeer nach Italien hat seit Anfang Jahr massiv zugenommen: Mehr als 42'000 Personen waren es in den ersten vier Monaten – beinahe viermal so viele, wie in der gleichen Periode vor einem Jahr.
Didier Leschi, der Generaldirektor der französischen Migrationsbehörde, verfolgt die Entwicklung in Italien genau. Denn ihre Folgen spüre Frankreich meist sehr schnell. Die grössten Gruppen kamen diesmal aus den ehemaligen französischen Kolonien Elfenbeinküste und Guinea.
Der Effekt für Frankreich bleibe ähnlich, sagt Leschi: «Während vielen Jahren sind die meisten Migrantinnen und Migranten in Italien aus Tunesien gekommen – als Folge der wirtschaftlichen Krise und mit Frankreich als Ziel.» Doch dies gelte eben auch für einen grossen Teil der Migration aus den frankofonen Ländern in Subsahara-Afrika. Dies sei ein Erbe von Frankreichs Kolonialgeschichte.
Migrationsfeindliche Stimmung im Maghreb
Wirtschaftliche Not ist eine Erklärung für die Zunahme von Fluchtbewegungen über das Mittelmeer. Die zunehmend migrationsfeindliche Stimmung in den Maghreb-Ländern eine andere.
Für Leschi sind es Symptome einer allgemeinen Entwicklung: Alle Maghreb-Länder verfolgten eine harte Politik gegenüber illegalen Migrantinnen und Migranten aus Subsahara-Afrika. Oft würden diese kurzerhand in Nähe der Grenze abtransportiert und dort wieder ausgesetzt. Auch die Äusserungen des tunesischen Präsidenten hätten bei den Migranten aus der Subsahara Angst ausgelöst und die Fluchtbewegung Richtung Europa verstärkt.
In Frankreich finden viele Menschen Zuflucht, deren Asylgesuch in anderen europäischen Ländern abgelehnt wurde.
Frankreich ist aber auch wegen seiner Asylpraxis ein attraktives Ziel. Frankreich wende bei der Behandlung von Asylgesuchen andere Kriterien an, als die meisten Schengen-Dublin-Staaten, sagt Leschi: «In Frankreich finden viele Menschen Zuflucht, deren Asylgesuch in anderen europäischen Ländern abgelehnt wurde.»
Zum Beispiel hätten in Schweden Flüchtlinge aus Afghanistan nur in jedem dritten Fall eine Chance auf Asyl. In Frankreich würden mindestens 8 von 10 Gesuchen bewilligt. Der Grund: In Frankreich entscheide eine unabhängige Behörde aufgrund der Genfer Konventionen. Wer also in Schweden abgelehnt werde, könne hoffen, in Frankreich trotzdem Asyl zu bekommen.
Migranten wollen nach Grossbritannien
Aber für viele dieser Migranten ist auch Frankreich nur Transitland – etwa für solche aus Afghanistan. Ihr eigentliches Ziel heisst in der Regel Grossbritannien: Viele Leute glaubten, dass sie genügend Englisch sprechen würden und die Kontrollen der britischen Behörden auf dem Arbeitsmarkt lascher seien als in Frankreich.
Zudem sei die Küste am Kanal so breit und die Passage so schmal, dass sie auch von der Armee nicht hermetisch geschlossen werden könne. Auch die Zahl der illegalen Migrantinnen und Migranten über den Ärmelkanal nimmt seit Jahren deutlich zu. Und aus London kommt regelmässig der Vorwurf, Paris habe die Migrationspolitik nicht im Griff. Genauso, wie Frankreich dies Italien vorgeworfen hat.