Mit den neuen Machtverhältnissen dürfte sich Frankreich in den kommenden Jahren von einem präsidentiellen System zu einem parlamentarischen System entwickeln. Das verspreche eher eine Beruhigung als weitere Eskalation, schätzt der Politologe Joseph De Weck, der ein Buch über Präsident Emmanuel Macron geschrieben hat.
SRF News: Bisher hatte Macron immer seine Partei im Rücken und konnte mit einer Mehrheit im Parlament regieren. Was ändert sich jetzt?
Joseph de Weck: Macron verliert damit ein Stück weit die Kontrolle über das Parlament. In den verbleibenden zweieinhalb Amtsjahren wird er innenpolitisch nicht mehr tonangebend sein. In Paris kursiert das Wort, die Macht sei vom rechten Seine-Ufer mit dem Elysée-Palast ans linke Ufer zum Assemblée Nationale übergegangen. Aussenpolitisch ist sein Rücken immerhin gestärkt, denn das neue Parlament ist klar proeuropäisch, proukrainisch und für die Nato. Macron wird also in der Europapolitik weiterhin sehr viel Handlungsspielraum haben.
Was heisst das für Macrons Führungsstil, wenn er nicht mehr im Alleingang regieren kann?
Will er innenpolitisch noch eine Rolle spielen, muss er quasi lernen, neutraler Vermittler zu werden. Wie etwa der Kanzler in Deutschland müsste er Mehrheiten unter den zerstrittenen Parteien zusammenzubringen. Doch selbst wenn er das versuchen würde, dürfte er scheitern. Nicht dass er es nicht könnte, doch er ist nach sieben Jahren Machtausübung die falsche Person dafür. Die Linke hasst ihn, und im eigenen Lager hat er sich mit den Neuwahlen viele Sympathien verspielt. Macron ist schlicht nicht mehr die politisch relevante Figur im künftigen Frankreich.
Ist das politische System Frankreichs für die neuen Machtverhältnisse gar nicht mehr so geeignet?
Die Verfassung ist für die neue politische Ära an sich sehr gut geeignet: Für einen direkt gewählten Präsidenten mit Kompetenzen in der Aussen- und Europapolitik, der die demokratischen Institutionen bewahren muss. Dazu die wahre Macht beim Parlament und in der Regierung. Es muss sich somit nicht so sehr die politische Architektur, sondern die politische Praxis ändern. Seit zwei Jahren zeichnet sich ein Wechsel von einem eher präsidentiellen System hin zu einen parlamentarischen System ab. Das wird die grosse Herausforderung der nächsten Jahre. Frankreich hat in der Vergangenheit schon verschiedentlich hin- und hergewechselt und etwa in der vierten parlamentarischen Republik zwischen 1946 und 1958 auch ziemlich gute Resultate erzielt.
Könnte ein neues System für mehr Zufriedenheit in der Bevölkerung sorgen?
Die neue Regierung wird nun etwas chaotischer sein, aber die Meinungen viel besser repräsentieren. In den nächsten Monaten wird noch sehr viel gestritten, bis die politischen Eliten den Auftrag der Wählerschaft zur Zusammenarbeit verstanden haben. Die Teilung der Macht dürfte dem sehr gespaltenen Land gut tun. Ich gehe davon aus, dass Frankreich in ein Zeitalter eintritt, das eher für Beruhigung und nicht für weitere Eskalation sorgt. Ein weiterer grosser Schritt wäre die Reform des Wahlrechts vom Majorz zum Proporz, denn so könnte keine Partei die Macht mehr allein ergreifen. Dies würde auch Europa nachhaltig stabilisieren. Denn das souveräne Europa, das Macron aufbauen will, klappt nicht mit einem Frankreich, das alle fünf Jahre «va banque» spielt.
Das Gespräch führte Marc Allemann.