In der Bibliothek im Moskauer Vorort Schtscholkowo nimmt eine Schulklasse Platz. Die 12- und 13-Jährigen sind da, um einen Vortrag zu hören. Die Frau, die den Vortrag hält, heisst Tamara Plastun. Sie stellt sich als Psychologin und als freiwillige Helferin in der «Spezialoperation» in der Ukraine vor.
«Ihr helft doch auch unseren Jungs?», fragt sie in die Runde. Schweigen. Bis die Klassenlehrerin aus einer hinteren Reihe «Ja, das tun wir!» ruft.
Russland als Opfer
Plastun erzählt von der «Konfrontation zwischen Russland und dem Westen». Sie zeigt eine Karte, auf der Pfeile aus Deutschland, Dänemark und Mitteleuropa nach Russland zeigen.
«Wisst ihr, wie viele Länder uns 1941 angegriffen haben? Nicht nur Deutschland», so Plastun. «Genau das wiederholt sich jetzt. Auch heute sind ganz Europa und Amerika gegen uns... also, fast ganz Europa, die Schweiz ist ja neutral», sagt sie mit Blick zum SRF-Reporter.
Der Westen wollte uns schon immer vernichten. Wegen unserer russischen Seele, die der westlichen Seele widerspricht.
Die Verbündeten der damaligen Sowjetunion erwähnt Plastun nicht. Im Gegenteil: «Der Westen wollte uns schon immer vernichten. Wegen unserer russischen Seele, die der westlichen Seele widerspricht.»
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Bild 1 von 5. Tamara Plastun hält den Vortrag vor der Schulklasse. Bildquelle: SRF/Calum MacKenzie.
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Bild 2 von 5. Plastun vor den Büchern in der Bibliothek. Bildquelle: SRF/Calum MacKenzie.
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Bild 3 von 5. Sie erzählt bei ihren Vorträgen von der «Konfrontation zwischen Russland und dem Westen». Bildquelle: SRF/Calum MacKenzie.
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Bild 4 von 5. Eine Bücherauswahl in der Bibliothek. Bildquelle: SRF/Calum MacKenzie.
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Bild 5 von 5. Die Bibliothek befindet sich im Moskauer Vorort Schtscholkowo. Bildquelle: SRF/Calum MacKenzie.
Was das heisse, erklärt sie so: «Im Westen haben sie mehr als 60 Geschlechter!» Anders als Russland, das nur zwei habe, wie von Gott gewollt.
Kampf um die Seele
Von hier schwenkt Plastun zurück zu den Nazi-Verbrechen in der Sowjetunion. «Sie hielten uns für minderwertig», sagt sie. «Sich selbst sahen sie als Herrenrasse, aber wir wissen ja, dass das nicht so war.»
Kurz erscheint es so, als würde Plastun den Chauvinismus verurteilen. Aber nein: «Die russische Seele ist die beste», sagt sie.
Der Zweite Weltkrieg ist ein emotionales Thema für fast alle Russinnen und Russen. Der Kreml nutzt das aus – indem er seinen Angriff auf die Ukraine mit dem Verteidigungskrieg gegen Hitler gleichsetzt. Plastun verbreitet diese Erzählung in russischen Schulen. Doch direkt nach den Gründen für die angebliche westliche Aggression gefragt, fällt es ihr schwer, sie zu erklären.
Warum hilft Amerika den Ukrainern? Das ist unser Land, sowjetisches Territorium.
«Die Welt ist nicht einfach, es gibt heute viele Leute, die schizophren sind, denen es an Intelligenz mangelt», sagt sie. Den Kindern erzählt sie, die Verwendung von Schimpfworten zerstöre ihre DNA. Der moralische Verfall im heutigen Russland sei auf einen Geheimplan der CIA zurückzuführen.
Überhaupt sei jedes Übel in Russland – vom Kollaps der UdSSR bis zur Maidan-Revolution in der Ukraine – «von den Amerikanern befohlen worden», so Plastun. «Warum hilft Amerika den Ukrainern? Das ist unser Land, sowjetisches Territorium», sagt sie. Die Ukraine habe sich nur unter dem Einfluss amerikanischer Propaganda gegen Russland gestellt. «Und dann haben sie uns angegriffen, nicht wir sie. Das Land gehört uns, nicht Amerika.»
Verdrängungshilfe
Trotzdem wünscht sich Plastun Frieden: «Ich hoffe sehr, dass Trump jetzt Selenski in den Hintern tritt und den Krieg beendet. Dieser Krieg ist etwas Schreckliches. Wie viele Mütter haben ihre Kinder verloren, Frauen ihre Männer?»
Plastun ist wohl keine eiskalte Ideologin – dazu sind ihre Erzählungen zu inkohärent. Wie vielen Menschen in Russland dürften ihr diese Theorien helfen, zu verdrängen, dass ihr Land die Tragödien des Kriegs verantwortet.
Was aber meinen die Schülerinnen dazu? Der Krieg solle aufhören, sagen sie, während die Klassenlehrerin finster zuschaut. Auf die Frage, wie sie zur Konfrontation zwischen Russland und dem Westen stünden, sagt eine: «Ich bin neutral.»