23 Jahre alt war Miguel Andrés Heredia Vásquez bei seiner Verhaftung Ende 1973 – nur wenige Monate, nachdem am 11. September General Augusto Pinochet in Chile die Macht übernommen hatte. Im Dezember dann verschwand er. So wie viele weitere Kommunistinnen und Kommunisten vor und nach ihm.
Der jüngere Bruder Emilio, inzwischen 58, hat Miguels Spuren rekonstruiert: «Miguel wurde von der Luftwaffe verhaftet. Er tauchte auf einer Gefangenenliste auf. Aber dann, 1974, brachte ihn der Militärgeheimdienst nach Tejas Verde», ins zweitgrösste Gefangenenlager Chiles während der Diktatur – ein Ort der Folter, auch für Miguel. «Ein junger Bekannter, der damals den Militärdienst machte, sagte uns, er habe Miguel im Hof des Gefängnisses gesehen. Ein anderer Gefangener bestätigte uns später, dass Miguel damals in einem schlechten Zustand war, aufgrund der Folter.» Ab hier fehlt von Miguel jede Spur.
Tausende verschwanden in Chile während der Diktatur spurlos
«Die Diktatur war wie ein Wirbelsturm, der über Chile fegte. Und der Sturm nahm unsere Männer mit. Wir blieben ohne Väter, ohne Brüder, ohne Grossväter, ohne Ehemänner», sagt Gaby Rivera Sánchez, Präsidentin der Vereinigung von Chiles Verschwundenen.
«Es sind 1460 Personen, die in Chile fehlen, bis heute. Diese Fälle hat der chilenische Staat offiziell anerkannt als verschwundene Häftlinge der Diktatur. Wir gehen aber davon aus, dass es eigentlich noch viel mehr Fälle gibt – um die 3000», sagt Gaby. Ihr Vater, Juan Luis Rivera Matus, verschwand im November 1975 ebenfalls. Rivera war Aktivist des links-sozialistischen Wahlbündnisses Unidad Popular und damit ein politischer Gegner der Militärdiktatur.
«Ich bin heute 65 Jahre alt. Mit meinem Vater lebte ich 14 Jahre lang, bis er verschwand. Meine Geschwister und ich, wir suchten ihn länger, als wir mit ihm lebten», sagt Gaby. Nach 25 Jahren Suche fand sie ihren Vater, in einem Aussenviertel von Chiles Hauptstadt Santiago. «In der Militärfestung Arteaga, auf einer Basis des chilenischen Militärs, fanden sie meinen Vater in einem Massengrab.» Eine DNA-Analyse brachte Gewissheit. «Sein Skelett war komplett erhalten, von Kopf bis Fuss, aber es fehlten Fingerknochen» – ein Hinweis auf Folter.
In der Militärfestung Arteaga, auf einer Basis des chilenischen Militärs, fanden sie meinen Vater in einem Massengrab.
Seit dem Beginn der Diktatur vor 50 Jahren suchten ausschliesslich Familienangehörige wie Gaby nach den Verschwundenen. Das änderte sich auch mit dem Übergang zur Demokratie 1990 nicht: Der Fokus lag auf dem Aufbau von Chiles Zukunft. Die schmerzliche Vergangenheit sollte ruhen, beschied damals die Politik. Doch Chiles Verschwundene schwiegen nicht: Immer wieder tauchten Massengräber auf. Die Familienangehörigen suchten weiter.
Erstmals will nun auch eine demokratische Regierung Chiles Verschwundene suchen
Die Ankündigung von Chiles links-progressivem Präsidenten, Gabriel Boric, im März dieses Jahres glich deshalb einer Sensation: Boric kündigte einen «nationalen Suchplan» an, der am 30. August 2023 in Kraft tritt. Erstmals will jetzt also auch eine demokratisch gewählte Regierung nach den Verschwundenen der Diktatur suchen.
Justizminister Luis Cordero erklärt gegenüber SRF: «Es geht uns nicht nur darum, Überreste zu finden. Wir wollen die Spuren der Verschwundenen und die Umstände, unter denen sie verschwanden, rekonstruieren – diese Informationen sind der chilenischen Öffentlichkeit bis heute nicht zugänglich.» Die Regierung will nun alle Akten zusammentragen, die in Chiles Gefängnissen und auf Militärbasen noch vorhanden sind, und mögliche Grabungsorte ausfindig machen.
«Die Verschwundenen zu suchen, ist wichtig. Dadurch setzt sich das Land mit seiner Vergangenheit auseinander. Es ist ein Akt der Erinnerung, der Wiedergutmachung. Und es erlaubt uns, unsere Demokratie künftig besser zu schützen», so Chiles Justizminister.
«Endlich», sagt Gaby Rivera Sánchez. «Der Staat muss Verantwortung übernehmen. Es war der Staat, der unsere Familienangehörigen während der Diktatur verschwinden liess – tausende Chilenen. Der Staat ist schuld, also muss der Staat auch handeln.»
Nicht alle sind zuversichtlich
Emilio Heredia Vásquez glaubt nicht, dass die chilenische Regierung seinen Bruder Miguel finden wird. Die politische Situation im Land sei dafür zu schwierig, sagt er. Gegen die linke Regierung von Gabriel Boric gibt es Widerstände. Seit kurzem erstarken in Chile rechts aussen die Republicanos von José Antonio Kast. Sie stehen für eine harte Linie in Sicherheitsfragen und drücken offen Nostalgie für die Zeit der Pinochet-Diktatur aus. Viele der Täter von damals seien noch immer auf freiem Fuss, sagt Emilio Heredia Vásquez. «Jene, die wissen, was mit Miguel geschah, halten bis heute fest an ihrem Pakt des Schweigens: die Militärs und die Armee.»
Wiedergutmachen könne seiner Familie das Geschehene niemand, sagt Emilio. «Aber wenn ich mir etwas wünschen könnte, wäre es eine Minute mit meinem Bruder Miguel, damit ich ihn umarmen kann und dass er mir sagt, dass es ihm gut geht – wo immer er jetzt ist.»