Republikanische Front gegen Marine Le Pen
Im Wahlkampf versuchte François Fillon mit «dezidierten» Positionen zur Flüchtlingspolitik und zum Islam, dem Front National das Wasser abzugraben. Nach seiner Niederlage stellte er sich unmissverständlich hinter den gemässigten Kandidaten Emmanuel Macron.
Für Frankreich-Kenner Casasus wiederholt sich die Geschichte: 2002 ging der spätere, konservative Präsident Jacques Chirac in die Stichwahl gegen Jean-Marie Le Pen: «Die Linke sprach sich geschlossen für Chirac aus, jetzt stellen sich die Konservativen grossmehrheitlich hinter Macron.» Das Resultat damals: Eine krachende Niederlage für Le Pen.
Macron kann den Champagner kalt stellen
Ein «absolut unwürdiges Verhalten» attestiert Casasus derweil Jean-Luc Mélenchon – der Ex-Trotzkist gab keine Wahlempfehlung ab, während sich die Sozialisten klar hinter Macron stellten: «Mélenchon hat nicht als Vertreter der Republik gehandelt», findet Casasus.
Nichtsdestotrotz: Auch die Wähler des Linkspopulisten, der beachtliche 19,6 Prozent der Stimmen holte, dürften mehrheitlich zu Macron gehen: Zu 95 Prozent sei die Wahl gelaufen, prognostiziert der Politologe: «Gestern war der entscheidende Tag im Präsidentschaftsrennen. Es müsste ein gewaltiges Erdbeben stattfinden, wenn Macron in 14 Tagen nicht Präsident wird.»
Frankreich hat sich für die EU entschieden
Im Vorfeld der Wahl war oft die Rede von Politmüdigkeit unter den französischen Bürgern: Kaum ein Kandidat der etablierten Kräfte verkörpere einen politischen Aufbruch, und die EU gerate zunehmend zum Feindbild, so der Tenor. Gerade deswegen scharten sich derart viele Protestwähler hinter die «Anti-Europäer» Mélenchon und Le Pen.
Dass linke Protestwähler jetzt zu Le Pen wechseln, glaubt Casasus aber nicht: «Sie ist eine Rechtsextremistin und keine Kandidatin der republikanischen Landschaft.» Und: Frankreichs Wähler hätten gestern ein klares Bekenntnis zur EU abgegeben: «Wer dachte, es würde einen Denkzettel für die EU geben, sieht sich getäuscht. Das Gegenteil ist passiert: Der europäischste aller Kandidaten hat gewonnen.»
Eine schwere Niederlage für den Front National
Marine Le Pen selbst interpretiert das Votum der Wähler anders, sie sprach gestern von einem Sieg: «Dieses Resultat ist historisch. Sie haben mir die grosse Verantwortung übertragen, die französische Nation zu verteidigen; ihre Einheit, ihre Sicherheit, ihre Kultur, ihren Wohlstand und ihre Unabhängigkeit.»
Casasus widerspricht: Nach den Umfragen, die Le Pen klar vorne sahen und den Regionalwahlen 2015, an denen der FN wählerstärkste Partei war, sei das Resultat eine Schlappe für die Partei insgesamt: «Der FN hat damit gerechnet, auch jetzt an erster Stelle zu sein. Die Gefahr ‹Le Pen› ist zwar nicht hundertprozentig gebannt. Aber die Möglichkeit, dass sie Präsidentin werden könnte, ist wesentlich geschrumpft.»
Frankreich tritt in eine neue politische Ära
In der Bevölkerung ist Macron fest verankert. Im Parlament fehlt seiner frisch aus der Taufe gehobenen Bewegung «En Marche!» jedoch eine Basis. Würde er als Präsident zur lahmen Ente?
Prognosen seien schwierig, sagt Politologe Casasus. Das seit Ende der 1970er Jahre etablierte Parteiensystem sei gestern zusammengebrochen: «Das Hauptproblem wird nun sein, wie Macron als unabhängiger Politiker eine Zukunftsperspektive aufbauen will.» Ein Muster dafür könnte Charles de Gaulle liefern: «Er verstand die Fünfte Republik als Treffen von einem Mann und einem Volk.»
Der Politologe Gilbert Casasus ist schweizerisch-französischer Doppelbürger und ist in Bern und Lyon aufgewachsen. Er ist Professor für Europastudien an der Universität Freiburg und forscht u.a. zur Geschichte der Europäischen Integration und der Neuen Rechten in Europa.