Der Machtkampf in Armenien spitzt sich zu: Am 1. März gab es grosse Demonstrationen gegen Premier Nikol Paschinjan – aber auch Gegendemonstrationen seiner Anhänger, von denen manche ein Regierungsgebäude stürmten. Die Lage drohe, ausser Kontrolle zu geraten, sagt die Journalistin Silvia Stöber.
SRF News: Was bedeutet der Sturm auf den Regierungssitz durch Regierungsgegner?
Silvio Stöber: Er ist ein Zeichen der weiteren Eskalation in Armenien. Weder Regierung noch Opposition sind offensichtlich dazu bereit, ihre Anhänger zu beruhigen, den Dialog zu suchen und damit eine politische Lösung anzustreben, um aus der Krise herauszukommen.
Demonstrationen, Gegendemonstrationen – wie lässt sich die Situation in der Hauptstadt Eriwan beschreiben?
Der Machtkampf wurde nun definitiv auf die Strasse getragen. Schon vor Tagen errichtete die Opposition Zelte vor dem Parlament, wo die Aktivisten ausharren wollen. Und auch Premier Paschinjan selber ruft immer wieder zu Demonstrationen auf, um ihn zu unterstützen. Der Kampf auf der Strasse birgt die Gefahr einer weiteren Radikalisierung der Lage.
Militär und Opposition fordern den Rücktritt Paschinjans. Mit welcher Begründung?
Es dreht sich alles darum, wer die Schuld für den Krieg mit Aserbaidschan trägt, der am 9. November 2020 beendet wurde. Der Premier hatte eine Waffenstillstandserklärung unterzeichnet, welche für Armenien eine grosse Niederlage bedeutet. Die Frage ist dabei auch, wie es zu den vielen Kriegstoten auf armenischer Seite kommen konnte.
Es ist ein Machtkampf zwischen den neuen und den alten Kräften im Gange.
Doch im Grunde handelt es sich um einen Machtkampf zwischen den alten und den neuen Kräften, wobei der seit drei Jahren amtierende Premier Paschinjan die neuen Kräfte vertritt. Die Kriegsniederlage war bloss der Anlass, um den Premier unter Druck zu setzen.
Ist Paschinjan tatsächlich an der Kriegsniederlage schuld?
Das ist eine komplexe Frage. Klar ist: Paschinjan ist erst seit drei Jahren Premierminister, entsprechend gehen viele wichtige militärische und diplomatische Entscheidungen – der Konflikt mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach schwelt seit Jahrzehnten – auf die alte Regierung zurück. Eine aktuelle Umfrage zeigt denn auch, dass 32 Prozent der Befragten der alten Regierung die Schuld geben, 28 Prozent Paschinjan.
Inzwischen hat Paschinjan Neuwahlen angekündigt – welche Strategie verfolgt der Ministerpräsident?
Er setzt darauf, dass es keine Alternative zu ihm gibt. Es gibt in Armenien derzeit keinen Politiker, der besser dasteht als Paschinjan.
Die Republikaner stehen für Wahlfälschung und Korruption.
Noch immer sind die Republikaner, die vor drei Jahren nach Jahrzehnten an der Regierung abgelöst wurden, in der Bevölkerung diskreditiert. Sie stehen für Korruption und Wahlfälschungen. Und ein anderer Teil der Opposition ist sehr radikal, was die Bevölkerung auch nicht will – und im Übrigen nicht gut wäre für das Land.
Die Lage in Armenien ist explosiv – steht das Land vor einem Umsturz, ja gar vor einem Putsch?
Das Militär hat sich in den vergangenen Tagen gegen die Regierung gestellt, müsste sich laut Verfassung aber neutral verhalten. Das ist derzeit ein wichtiger Streitpunkt.
Eigentlich wissen alle Beteiligten, dass sie jetzt nach einer gemeinsamen Lösung suchen müssen.
Doch eigentlich wissen alle Beteiligten, dass das Land nicht noch instabiler werden darf, weil das die Gegner Aserbaidschans stärken würde. So könnte Russland noch mehr Einfluss gewinnen. Deshalb ist eigentlich allen klar, dass sie jetzt nach einer Lösung suchen müssen und die Lage nicht weiter eskalieren darf.
Das Gespräch führte Lillybelle Eisele.