Heute wählen die Brasilianer einen neuen Präsidenten. Ex-Militär Jair Bolsonaro liegt laut Umfragen vorn. Er mobilisiert die Bürger gegen das verhasste Establishment – und hetzt gegen Homosexuelle, Frauen und Schwarze. Der brasilianische Politologe Mauricio Santoro betrachtet die Entwicklung mit grosser Sorge.
SRF: Warum hat Jair Bolsonaro überhaupt Chancen auf eine Wahlsieg?
Mauricio Santoro: Sein Umfrage-Erfolg ist das Ergebnis von fünf Jahren Wirtschaftskrise. Viele Brasilianer sind wütend, weil den Politikern ihre Probleme anscheinend egal sind. Also suchen sie nach einer Alternative – auch wenn diese autoritär ist.
Viele wollen Bolsonaro wählen, weil er eine Liberalisierung der Wirtschaft verspricht.
Dahinter würde ich noch ein Fragezeichen setzen. In beinahe 30 Jahren als Abgeordneter hat er eine nationalistische Wirtschaftspolitik vertreten, ähnlich der der traditionellen brasilianischen Linken.
Und dennoch verkauft er sich als Aussenseiter und Vertreter des Anti-Establishments.
Bolsonaro ist ein altgedienter Politiker. Trotzdem stellt er sich als Rebell gegen das politische System dar und seine Wähler kaufen ihm das ab. Bolsonaro war bereits sieben Legislaturperioden im Parlament, aber fiel dort kaum auf. Erst in den letzten fünf Jahren wurde er bekannt, seit der Wirtschaftskrise. Deshalb wird er nicht als Teil der alten Eliten wahrgenommen.
Seine Anhänger sehen in Bolsonaro einen Heilsbringer. Seine Gegner einen Faschisten. Wer hat Recht?
Bolsonaro ist eine Gefahr für die Demokratie in Brasilien. Er führt einen aggressiven, frauenfeindlichen Diskurs und verbreitet Hass gegen sexuelle Minderheiten, gegen Schwarze, gegen Indigene. Wenn ein Präsident eine solche Rhetorik vertritt, würde das unweigerlich dazu führen, dass die Zahl der durch Hass motivierten Verbrechen anstiegen. Genau wie die Gewalt gegen Frauen, gegen Schwarze und andere Minderheiten.
Dass er der Armee so nahe steht, bereit Sorge. Denn er verehrt öffentlich Folterer aus der letzten Militärdiktatur.
Sein Kandidat als Vize-Präsident ist ein Armee-General.
Dass er der Armee so nahe steht, bereit Sorge. Denn er verehrt öffentlich Folterer aus der letzten Militärdiktatur. Bolsonaro selbst und auch sein designierter Vizepräsident haben in öffentlichen Ansprachen ein Eingreifen des Militärs nicht ausgeschlossen. Sie erwägen auch, eine neue Verfassung zu entwerfen – entworfen von speziell vom Präsidenten dazu einberufenen Vertretern.
Das klingt nach Venezuela.
Es erinnert tatsächlich an Fälle wie den von Alberto Fujimori in Peru, Hugo Chávez und Nicolás Maduro in Venezuela oder Daniel Ortega in Nicaragua. Wir müssen uns nur umsehen in der Welt: Der Weg zu einer Diktatur führt heute nicht mehr über einen klassischen Militärputsch. Er geht so: Ein demokratisch gewählter Präsident schwächt Stück für Stück die demokratischen Institutionen.
Das klingt alles ziemlich erschreckend. Warum wählen die Menschen Bolsonaro trotzdem?
Er betont, er sei nicht korrupt und habe die Kraft, die in Brasilien notwendigen Änderungen durchzuführen. Das wage ich zu bezweifeln. Seine Partei hätte zu wenige Sitze im Parlament, um Reformen durchzuführen. Erfahrungsgemäss fällt es Präsidenten in Brasilien schwer, ihre Amtszeit zu Ende zu bringen, wenn sie so wenig Unterstützung im Parlament haben. Das haben wir zuletzt im Fall von Dilma Rousseff im Jahr 2016 gesehen.
Was würde eine Wahl von Jair Bolsonaro auf internationaler Ebene bedeuten?
Diese Wahl muss alle interessieren, denen die Demokratie am Herzen liegt, denen Menschenrechte wichtig sind. Brasilien ist eine der grössten Volkswirtschaften weltweit und hat eine Schlüsselrolle in vielen Verhandlungen auf internationaler Ebene, etwa in Sachen Handel oder Klimawandel. Was in Brasilien passiert, wird auf viele Schwellenländer Auswirkungen haben.
Ich habe noch nie eine so gewalttätige Wahlkampagne erlebt, mit so viel Zukunftsangst.
Wie geht es weiter?
Das Land ist extrem gespalten. Egal wer Präsident wird, er wird maximal die Hälfte der Bevölkerung hinter sich wissen. Ich befürchte, es beginnt ein neues Kapitel der brasilianischen Geschichte, das durch politische Instabilität, Gewalt und Angst geprägt sein wird. Ich habe seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1985 alle Wahlen begleitet. Und ich habe noch nie eine so gewalttätige Wahlkampagne erlebt, mit so viel Zukunftsangst.
Gibt es auch Hoffnung?
Meine Hoffnungen liegen auf den Jugendlichen und auf den Frauen. In diesen beiden gesellschaftlichen Gruppen bemühen sich viele um eine Erneuerung des Landes. Dass traditionelle Politiker Brasilien zum Positiven verändern, halte ich für unwahrscheinlich.
Das Gespräch führte Karen Naundorf.