Die brasilianische Gesellschaft ist gespalten, bereits ist es nach der gestrigen Stichwahl zu ersten Protesten gekommen. Der neue Präsident Lula da Silva muss das Land einen. In seiner Siegesrede sagte er: «Es gibt nicht zwei Brasilianer, es gibt nur ein Land, nur ein Volk, nur eine grosse Nation.»
Lula wird das Land einen können, denn der 77-Jährige ist ein Meister der Allianzen. Sein Vizepräsident ist der rechtsgerichtete ehemalige Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin. Und mit ihm im Team zieht Lula ins sozialdemokratische Zentrum und spricht so viel mehr Menschen in der Bevölkerung an.
Aber, und das ist ein grosser Unterschied zu seinen ersten beiden Amtszeiten vor zwanzig Jahren: Lula hat weniger Macht.
Wird Brasilien unregierbar?
Die Brasilianerinnen und Brasilianer haben Lula diesmal vor allem gewählt, weil sie Bolsonaro verhindern wollten und nicht, weil sie von Lula überzeugt sind. Viele halten ihn für korrupt, er war deswegen auch eineinhalb Jahre im Gefängnis. Lula wird im Amt gegen eine fast so hohe Ablehnung wie Bolsonaro zu kämpfen haben.
Für Lula und sein Team besteht auch die Gefahr der Unregierbarkeit. Seine Koalition reicht von ganz links bis rechtskonservativ, da wird er grosse Kompromisse eingehen müssen in seinem Regierungsprogramm. Er wird sich in seinen eigenen Vorstellungen nicht wiederfinden.
Bolsonaros beredtes Schweigen
Zudem: Der Kongress erlebte bei den Parlamentswahlen einen regelrechten Rechtsrutsch. Bolsonaros Partei ist die stärkste Kraft. Vieles von dem, was der linke Lula umsetzen will, wird er nicht umsetzen können.
Bolsonaro hat sich bis jetzt zu seiner Niederlage noch nicht geäussert. Brasilianische Zeitungen schreiben, er sei am Sonntagabend bereits um 22 Uhr eingeschlafen und habe sich im Präsidentenpalast verschanzt. Verbündete des Amtsinhabers erkannten hingegen Lulas Wahlsieg an.
Mit seinem Schweigen zeigt sich Jair Bolsonaro einmal mehr nicht als das, was er ohnehin selten ist: ein Staatsmann.