In Südamerikas grösster Demokratie fand heute die Stichwahl für das Präsidentenamt statt – eine Richtungswahl. Gelingt dem ultrarechten Jair Bolsonaro die Wiederwahl oder kommt der ehemalige linke Staatschef Lula da Silva zurück an die Macht? Letzte Umfragen gehen von einem knappen Rennen aus – mit einem leichten Vorteil für Lula da Silva.
SRF News: Hatte Lula da Silva den besseren Endspurt in diesem Wahlkampf?
David Karasek: Ja, das würde ich so sagen. Lula machte allgemein einen besseren Wahlkampf. Vor allem schaffte er es, glaubwürdig auf die Mitte zuzugehen: Ein grosser Teil der Finanzelite in São Paulo, dem Wirtschaftszentrum des Landes, steht hinter Lula.
Auch die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Simone Tebet, Angehörige einer Mitte-Partei und vor einem Monat als Drittplatzierte ausgeschieden, unterstützt nun offiziell Lula. Lula sind im Wahlkampf auch keine Fehler passiert, nicht wie Bolsonaro.
Was ist passiert?
Bolsonaro hatte eine miserable letzte Woche. Bei einem Wahlkampfauftritt in einer Favela hat er zuerst mit 14-jährigen Mädchen aus Venezuela geflirtet, sie als aufreizend beschrieben und sie danach als Prostituierte verunglimpft. Das gab heftige negative Schlagzeilen.
Bolsonaro sagt seit Jahren: Bewaffnet euch, wehrt euch. Jetzt hat es einer gemacht und das war für viele ein sehr verstörendes Ereignis.
Am stärksten geschadet hat Bolsonaro aber ein Zwischenfall vor einer Woche. Der Politiker Roberto Jefferson, ein politischer Verbündeter, sollte für ein paar Delikte festgenommen werden. Bei der Verhaftung schoss er auf die Polizisten und bewarf sie mit Handgranaten. Bolsonaro musste sich deshalb rechtfertigen. Vor allem aber zeigt dieser Vorfall zu was der Hassdiskurs von Bolsonaro führen kann. Er sagt seit Jahren: Bewaffnet euch, wehrt euch. Jetzt hat es einer gemacht und das war auch für viele rechtskonservative Wählerinnen und Wähler ein sehr verstörendes Ereignis.
Lula beispielsweise musste offiziell bekannt geben, dass er nicht Satan sei.
Der Wahlkampf war geprägt von Falschinformationen und schweren gegenseitigen Beschuldigungen. Ist die Bevölkerung froh, dass diese Schlammschlacht nun vorbei ist?
Ja, vor allem diese zweite Wahlkampfrunde war geprägt von Fake News und Hass: Bolsonaro sei pädophil und ein Kannibale, hiess es, Lula dagegen sei Satan, weil er alle Christen verfolgen und alle Kirchen schliessen wolle. Diese Falschinformationen – so absurd sie klingen – werden geglaubt. Sie bestimmen derart die Debatte, dass die Kandidaten jeweils mit Statements die Gemüter beruhigen mussten. Lula beispielsweise musste offiziell bekanntgeben, dass er nicht Satan sei.
Viele Bolsonaro-Anhängerinnen und Anhänger sind bewaffnet, die Stimmung ist aufgeheizt. Bolsonaro säht schon lange Zweifel am elektronischen Wahlsystem, das bei der Wahl zum Einsatz kommt. Wie gross ist die Gefahr von gewalttätigen Unruhen, sollte Bolsonaro verlieren?
Diese Gefahr besteht. Ich würde sagen, die Stimmung ist aufgeheizter und angespannter als im ersten Wahlgang vor einem Monat. Und das hat vor allem mit einem Entscheid des Obersten Gerichts zu tun. Es hat vor gut einer Woche Fake News unter Strafe gestellt. Die Verbreitung von falschen oder aus dem Kontext gerissenen Meldungen müssen entfernt werden und es droht eine Geldstrafe.
Die meisten von Bolsonaros Anhängern sind bewaffnet, notabene wegen seiner lockeren Waffengesetze.
Die Anhängerinnen und Anhänger von Bolsonaro sind wütend, sie empfinden diesen Entscheid als Zensur und als weiteres Zeichen dafür, dass das Oberste Gericht oder die Justiz auf der Seite von Lula ist.
Grosse Sorgen bereitet nun der harte Kern seiner Anhänger, die meisten von ihnen sind bewaffnet, notabene wegen Bolsonaros lockeren Waffengesetzen. Beobachterinnen und Beobachter hier in Brasilien befürchten, dass es bei einer Niederlage von Jair Bolsonaro zu Unruhen kommt.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.