Am Montagabend hat Marina Owsjannikowa, eine Frau mit russischen und ukrainischen Wurzeln, im staatlichen russischen Fernsehen während der Nachrichtensendung ein Plakat in die Kamera gehalten. Darauf forderte sie ein Ende des Krieges in der Ukraine. Die Frau wurde umgehend überwältigt und abgeführt. Der ehemalige SRF-Korrespondent in Russland, David Nauer, weiss, was Marina Owsjannikowa jetzt droht.
SRF News: Für den Protest gegen den Krieg drohen in Russland bis zu 15 Jahre Haft. Muss Marina Owsjannikowa mit so einer drakonischen Strafe rechnen?
David Nauer: In der Tat soll gegen Owsjannikowa offenbar das neue Gesetz angewendet werden, welches für «Fakenews» über den Krieg in der Ukraine drakonische Strafen vorsieht.
Das Wort ‹Krieg› ist aus russischer Sicht Fake News.
Aus Sicht des russischen Staates ist schon das Wort «Krieg» allein Fake News und es ist verboten, es zu sagen oder es geschrieben in die Kamera zu halten. Deshalb muss Owsjannikowa gemäss Medien mit einer sehr harten Strafe rechnen. Im Moment wurde sie aber bisher nur wegen administrativer Vergehen vor Gericht gestellt, dafür drohen Bussen oder 10 Tage Arrest.
Wie reagiert die russische Öffentlichkeit auf Owsjannikowas Aktion?
In liberalen, oppositionellen Kreisen in Moskau ist sie eine Heldin, auch in der Ukraine wird sie für ihren Mut gefeiert. Doch die Mehrzahl der Russinnen und Russen hat keinen Zugang zu kritischen Informationen, die Zensur ist extrem verschärft worden seit Kriegsbeginn.
Die Zensur in Russland ist extrem verschärft worden.
Die ganz wenigen kritischen Medien in Russland, die es noch gibt, dürfen bloss einen verpixelten Screenshot ihres Auftritts am Fernsehen zeigen, weil auf dem Plakat «Stoppt den Krieg» stand – was wie gesagt verboten ist. Deshalb wissen viele Russen gar nicht, was Owsjannikowa da in den Nachrichten gemacht hat – viele wissen gar nicht, dass in der Ukraine Krieg herrscht.
Wie steht die Mehrheit der Russinnen und Russen zum Krieg?
Laut Umfragen steht die Mehrheit hinter dem Krieg – allerdings sind Umfragen in Diktaturen immer mit Vorsicht zu geniessen. Viele Russinnen und Russen unterstützen den Krieg wohl nicht und sie sorgen sich um die Wirtschaft.
Umfragen sind in Diktaturen immer mit Vorsicht zu geniessen.
Aber eine Mehrheit dürfte hinter Putin stehen und glauben, dass der Westen für den Krieg in der Ukraine verantwortlich sei. Viele sagen auch, beide Seiten hätten wohl schuld, beide Seiten würden lügen.
Gibt es in Russland noch Strassenproteste gegen den Krieg?
Ja – gemessen an der Grösse Russlands mit rund 145 Millionen Einwohnern ist der Protest aber sehr klein – auch wenn insgesamt mehrere Zehntausend Menschen gegen den Krieg auf die Strasse gingen.
Die russischen Sicherheitskräfte tun alles, um den Protest im Keim zu ersticken.
Wenn man bedenkt, wie riskant es ist zu protestieren – mehr als 14'000 Menschen wurden bereits verhaftet – ist der Protest wiederum ansehnlich. Aber die Sicherheitskräfte tun alles, um den Protest im Keim zu ersticken.
Viele Menschen haben ihre Sachen gepackt und Russland verlassen. Weiss man, wie viele es sind?
Nicht genau. Aber Schätzungen von Oppositionellen gehen von bis zu 200'000 Personen aus, die ausgereist sind. Aus Orten, wohin Russen ohne Visum reisen können – Istanbul etwa, Armenien oder Georgien –, wird gemeldet, dass dort sehr viele Russinnen und Russen eingetroffen sind.
Bis zu 200'000 Russinnen und Russsen sollen das Land verlassen haben.
Meist handelt es sich bei ihnen um jüngere und gut ausgebildete Leute. Nur sie haben überhaupt genug Geld und die Möglichkeit, Russland zu verlassen.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.