Am Highway 1 in Coral Gables, einem südlichen, weissen Vorort von Miami. Am Strassenrand steht eine kleine Gruppe Pensionierter. Seit mehr als einem Monat schon stehen sie dort, jeden Morgen zwischen 8 und 9 Uhr. Auf ihren Plakaten steht «black lives matter» und «end white silence».
Christine sagt, sie wolle als weisse Frau nicht länger schweigen zum Unrecht, das Schwarzen angetan werde. Das Video vom grauenvollen Tod von George Floyd habe sie und viele andere Weisse schockiert. Es sei zu offensichtlich, dass der Polizist nicht in Gefahr war. Sein Vorgehen sei deshalb unentschuldbar.
Carol pflichtet ihr bei: So etwas habe sie noch nie gesehen. Für Ruth war es eine Selbstverständlichkeit, dagegen zu protestieren. Ihr Protest richte sich auch gegen das Weisse Haus. Mit seinen Botschaften des Hasses ermuntere der Präsident die Rassisten geradezu.
Dass die Protestbewegung überall im Land so viele Menschen mobilisiert habe, sei zunächst das Verdienst der drei Frauen, die «Black Lives Matter» vor sieben Jahren gegründet haben, findet Brenda Stevenson, Professorin für afroamerikanische Geschichte an der University of California. Sie hätten den Boden bereitet für die heutige breite Protestbewegung.
Heute unterstützen laut Umfragen gut zwei Drittel der Bevölkerung die Bewegung – mehr als doppelt so viele wie noch vor vier Jahren. Wie ist das passiert? Eine wichtige Rolle hätten Videos von rassistischen Übergriffen gespielt, allen voran jenes von George Floyds Tod, so Stevenson. Man höre, wie er darum bettelt, nicht getötet zu werden, wie er nach seiner Mutter ruft.
Mehr Aufmerksamkeit durch Corona
Karen Gaffney, die an Colleges Vorlesungen zu Antirassismus hält, pflichtet Stevenson bei. Lange hätten Weisse den Schilderungen schwarzer Opfer nicht geglaubt. Sie stelle zudem immer wieder fest, dass die meisten weissen Studentinnen und Studenten kaum etwas über Rassismus wüssten.
Judith Katz hat in den 1970er-Jahren mit «White Awareness» ein Handbuch für Antirassismus geschrieben. Dass heute so viele Weisse auf die Strasse gingen, habe viel mit der Corona-Pandemie zu tun, glaubt Katz. Kein Sport, keine sozialen Anlässe, keine Ablenkung: Viele US-Amerikaner würden während der Pandemie das Geschehen im Land aufmerksamer verfolgen.
Sinneswandel im Gange
Die Erfahrung, dass in der Pandemie alle Menschen verletzlich sind, habe vielen die Augen geöffnet für die Ungerechtigkeit und Ungleichheit im Land, findet auch Katz. Die systematische Benachteiligung von Menschen mit dunklerer Hautfarbe bei Wohnen, Arbeiten oder in der Gesundheitsversorgung wurde schonungslos offen gelegt.
Historikerin Stevenson erkennt bei vielen Weissen einen Sinneswandel: Nach der Wahl von Barack Obama hätten sie geglaubt, die Hautfarbe spiele in den USA heute keine Rolle mehr. Doch Corona habe das Gegenteil bewiesen.
Das erklärt auch, warum sich neben Weissen auch sehr viele Minderheiten solidarisch zeigen mit den Schwarzen. Zum Beispiel der kubanisch-stämmige Jorge, der jeden Morgen am Highway 1 steht mit seinem Schild: Wer einen Schwarzen tötet, tötet auch mich.