Der belarussische Autor Sascha Filipenko hat im Jahr 2014 sein Buch «Der ehemalige Sohn» publiziert. Darin geht es um einen jungen Mann, der in Minsk ins Koma fällt, zehn Jahre später wieder aufwacht – und feststellt: Nichts hat sich geändert. Alexander Lukaschenko ist immer noch an der Macht, das Land liegt immer noch unter einer Diktatur. Das Buch hat demnach die Zukunft prophezeit.
Belarus: für viele kein sicherer Ort mehr
Die Zukunft für ein Land wie Belarus vorherzusagen, sei nicht schwierig. Man müsse nur beschreiben, was in der Gegenwart passiere – und dies würde sich immer und immer wieder wiederholen. Aktuell ist der 36-jährige Autor gerade in der Schweiz, als Writer in Residence bei der Jan-Michalski-Stiftung im waadtländischen Montricher. Die belarussische Heimat sei für ihn ein gefährlicher Ort geworden.
Gegenüber SRF sagt Filipenko: «Es war ein Artikel erschienen in Belarus, in dem es darum ging, welche bekannten Bürger an die Demonstrationen gehen. Mein Name stand an dritter Stelle. Am nächsten Morgen waren die ersten beiden Männer auf der Liste bereits in Haft. Da bin ich ausgereist.»
Im vergangenen Sommer kam es zu einem Volksaufstand in Belarus, weil Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahl fälschen liess. Der Machthaber reagierte mit Gewalt.
«Mein ganzes Umfeld in Belarus ist von der Repression betroffen. Die einen sitzen im Gefängnis, die anderen wurden verprügelt – ganz egal, ob Schriftsteller oder Journalisten, mein Freund, der Architekt ist oder jener, der Blumen verkauft. Es kann jeden treffen.»
Lukaschenko: «ein talentierter Diktator»
Die Festnahmen gehen auch ein halbes Jahr nach der Wahl weiter. Und die mutigsten unter den Bürgerinnen und Bürgern gehen immer noch auf die Strasse, demonstrieren. Doch es scheint, dass das Regime derzeit die Oberhand gewonnen hat.
Lukaschenko sei ein sehr talentierter Diktator. Er habe um sich herum einen starken Sicherheitsapparat gegründet – und diese Leute auch an sich gekettet. «Sie wissen: wenn Lukaschenko fällt, dann fallen auch sie. Deswegen verteidigen sie nicht mal so sehr ihn als vielmehr sich selbst», erklärt Filipenko.
Die Belarussinnen und Belarussen lassen sich aber nicht unterkriegen. Filipenko schwärmt davon, wie sich Menschen in Wohnblocks selbst organisieren, wie sich trotz der Gewalt von oben eine Zivilgesellschaft bildet. Er sei optimistisch, sagt er – gesteht aber auch eine gewisse Ernüchterung ein: «Ich glaube, wir hatten grosse Illusionen. Wir dachten, wir brauchten nur ein paar Wochen, und dann ist Lukaschenko weg.»
Roman spiegelt die Realität
Der Sturz des Tyrannen ist nicht eingetreten. Inzwischen hängt wieder jene düstere Schwere über dem Land, die Filipenko in «Der ehemalige Sohn» beschreibt. In dem Roman – der übrigens bald auf Deutsch erscheint – erwacht Franzisk, ein junger Mann, aus dem Koma, in dem er zehn Jahre lang gelegen hatte. Der Genesene wankt durch eine Stadt, die ihm vertraut ist, als wäre er nur einen Tag weg gewesen. Er erlebt, wie brutal eine Demonstration aufgelöst wird; er erlebt die Ruchlosigkeit derjenigen, die vom System profitieren.
Autor Filipenko hat ein zwiespältiges Verhältnis zu seinem Werk: «Das Buch ist immer noch aktuell. Als Autor macht mich das glücklich. Aber für mich als belarussischen Bürger ist es eine grosse Tragödie.» Er wünsche sich, dass «Der ehemalige Sohn» irgendwann nicht mehr die belarussische Realität abbildet.