In einem Zelt am Stadtrand von Beirut spielen vier Männer Karten. Ein paar Frauen wärmen sich an einem kleinen Ofen, eine schmückt einen künstlichen Weihnachtsbaum. «Revolution», beginnt ein Mann zu singen.
Das Zelt ist Treffpunkt für Demonstranten. Am Tisch sitzt der 42-jährige Fady Nader. Vor dem Beginn der Massenproteste war er Parteimitglied der christlichen Libanesischen Kräfte. Auf die Strasse ging er – wie viele andere – spontan. Weil er frustriert war über die Regierung und den Zustand des Landes. Er half, Strassen zu blockieren.
Eines Tages hielten ihn Soldaten fest. «Sie schlugen mich halbtot und warfen mich an den Strassenrand», erzählt Nader. «Gottseidank sahen mich ein paar Demonstranten und brachten mich ins Spital.»
Der Sohn, ein «Rebell auf Drogen»
Als er im Spital war, habe sich seine Mutter in einer Sprachnachricht auf WhatsApp einer Freundin anvertraut. Seine Mutter sei eine überzeugte Anhängerin von Präsident Michel Aoun. «Sie sagte, wir seien Rebellen auf Drogen, was nicht wahr ist. Und ihre Freundin postete die Sprachnachricht auf Facebook.»
Meine Mutter ist für Präsident Aoun. Sie betrachtet uns als eine Art Mafia – wegen dem Bürgerkrieg.
Seither redet Nader nicht mehr mit seiner Mutter, weil sie ihn, seine Frau und seine beiden Töchter mit ihren Aussagen in Gefahr brachte. Und weil sie über die Leute schlecht redete, die sein Leben retteten. «Ich war körperlich und psychisch zerstört. Diese Leute hier haben mir wieder auf die Beine geholfen», sagt er von seinen Kollegen am Tisch.
Verrat am Helden
Die Proteste weckten bei Naders Mutter Erinnerungen an den Bürgerkrieg in den 1970er und 80er Jahren. «Meine Mutter ist für Präsident Aoun. Sie betrachtet uns als eine Art Mafia – wegen dem Bürgerkrieg.»
Aoun war vor allem gegen Ende des Bürgerkrieges ein populärer christlicher General. Aber als er seine Befehlsgewalt über eine andere christliche Miliz ausdehnen wollte, über die Libanesischen Kräfte, kam es im christlichen Ost-Beirut zu Strassenkämpfen zwischen Aouns Armee und den ebenfalls christlichen Libanesischen Kräften. Aus Letzteren wurde später eine politische Partei, in die Nader eintrat. Das empfand seine Mutter als Verrat an ihrem Helden Aoun. Als sich ihr Sohn auch noch den Demonstranten anschloss, die unter anderem gegen Präsident Aoun protestierten, wähnte sich seine Mutter wieder im Bürgerkrieg.
Angewidert von der Regierung
Aber ihm gehe es gar nicht um Aoun, sagt Nader: «Ich demonstriere, weil ich hungrig und müde bin, weil mich die Situation im Land anwidert, und weil ich für alle ein Leben in Würde will, ohne korrupte Regierung, die uns bestiehlt.»
Jetzt ist mir mein Land wichtiger als die Familie.
Auf seinem Handy sucht Nader die letzte Sprachnachricht seiner Mutter, bevor sie seine Nummer blockiert hat: «Gott sei mit dir, aber ich bitte dich: Sag mir nicht mehr Mutter. Du hast keine Mutter mehr.»
Zukunft für die Kinder
Nader starrt auf den Tisch. Der Bruch mit seiner Mutter schmerzt ihn: «Aber jetzt ist mir mein Land wichtiger als die Familie», sagt er. «Wir wollen eine Regierung, in der Familienclans und Religion keine Rolle mehr spielen – ein Land, in dem unsere Kinder eine Zukunft haben.»
Der Weihnachtsbaum im Zelt ist geschmückt. Hier wird Nader Weihnachten feiern. Nicht alle sind Christen. Aber genau das mache diese Weihnachten besonders. «Das wird das schönste Weihnachtsfest. Diese Leute, die alle gemeinsam für die Revolution sind, empfinde ich als meine echte Grossfamilie.» Nader hofft, dass ihn seine Mutter eines Tages verstehen wird.