«Ich habe gekündigt, weil mein Lohn viel zu niedrig war. Und weil in unseren Schulen unhaltbare Zustände herrschen.» Mariann Czédly (53) hat vor ein paar Tagen die Kündigung eingereicht – nach 30 Jahren Schuldienst. So wie sie verlassen immer mehr Lehrkräfte in Ungarn den Beruf. Die Folge: Lehrermangel und wachsende Belastung der verbleibenden Pädagogen.
Die derzeitige Protestwelle ist bereits der zweite Aufstand der Lehrkräfte. 2016 demonstrierten sie gegen die Zentralisierung des Bildungssystems, die Zwangsmitgliedschaft in dem von der Regierungspartei kontrollierten Berufsverband und gegen die Bevormundung der Erzieher. Damals schaffte die Fidesz-Regierung auch das Streikrecht der Lehrkräfte ab. Einige «Rädelsführerinnen» wurden entlassen.
Keine angemessene Lohnerhöhung in Sichtweite
Seit Beginn des Schuljahres gab es in Ungarn landesweit mehr als hundert Proteste in über 60 Städten und Dörfern. Am Nationalfeiertag (23. Oktober) gingen in Budapest 80'000 Menschen zum Protest auf die Strasse: Lehrkräfte, Schulkinder und deren Eltern. So viele, dass es Ministerpräsident Viktor Orbán vorzog, seine Rede, nicht wie üblich in der Hauptstadt Budapest, sondern im Provinzstädtchen Zalaegerszeg zu halten. Die von der Regierungspartei Fidesz gelenkten Medien verschwiegen die Grossdemonstration fast gänzlich.
Die Lehrer, Kindergärtnerinnen, Sonderpädagogen und Erzieherinnen Ungarns fordern höhere Löhne, mehr Geld für die Schulen und weniger Bevormundung für ihren Berufsstand. Ihre Gehälter seien «Hungerlöhne» sagen sie. Berufsanfänger starten bei umgerechnet circa 500 Franken netto. Ein Gehalt, von dem man heute in Ungarn nicht mehr leben kann. Später gibt es 1000 Franken – auch das ist immer noch deutlich weniger als der ungarische Durchschnittslohn. Dieser beträgt etwa 1600 Franken.
Die Regierung hatte kürzlich eine Lohnerhöhung von zehn Prozent angeboten. Doch die Gewerkschaften lehnten, mit dem Hinweis ab, dass die Teuerung in Ungarn derzeit über zwanzig Prozent betrage. Lebensmittel sind im Vergleich zum Vorjahr sogar vierzig Prozent teurer geworden.
«Stets ist die EU schuld»
Die Regierung erklärte, eine grössere Lohnerhöhung sei derzeit unmöglich. Erst müsste die Europäische Union die wegen Korruptionsgefahr blockierten 7.5 Milliarden Euro nach Ungarn überweisen.
Das ist das Narrativ der ungarischen Regierung: Stets sind die EU und Brüssel an allem schuld.
Laut Fachleuten ist das nicht haltbar. Denn das EU-Fördergeld sei nicht für Beamtenlöhne vorgesehen, sondern für Wirtschaftsprojekte. Die Politologin Andrea Virág von der Denkfabrik Republikon sagt: «Das ist das Narrativ der ungarischen Regierung: Stets sind die EU und Brüssel an allem schuld.»
Marode Klassenzimmer und undichte Schuldächer
Doch die Löhne sind nur das Eine. Das Andere ist die marode Infrastruktur, in die viel zu wenig investiert wird. «Die Heizung der Schule war so alt, dass die Klassenzimmer im Winter kalt blieben. Das Dach war undicht. Die Toiletten waren in unerträglichem Zustand», erzählt Ex-Lehrerin Mariann Czédly. Sie ist jetzt arbeitslos und bereit, auch als Reinigungskraft anzufangen.
Menschen, die wenig Bildung haben, sind viel leichter zu manipulieren.
Doch warum lässt die Regierung die Schulen so verkommen? Eine Politik, die Ungarn in zehn bis zwanzig Jahren teuer zu stehen kommen dürfte. Politologin Andrea Virág meint, eine Schulreform sei kompliziert und konfliktreich. Dazu seien die Lehrkräfte politisch wenig wichtig. Doch Ex-Lehrerin Mariann Czédly ist sich sicher: «Menschen, die wenig Bildung haben, sind viel leichter zu manipulieren. Es ist viel einfacher, sie in jene Richtung zu navigieren, die die Regierung möchte.»