Seit Langzeitdiktator Alexander Lukaschenko bei den Präsidentschaftswahlen in Weissrussland am 9. August seinen erneuten Sieg mit mehr als 80 Prozent der Stimmen verkündet hat, demonstrieren Hunderttausende im Land und fordern ihn zum Rücktritt auf. Mehr als 6000 Personen wurden festgenommen. Maria Kalesnikawa war Wahlkampfleiterin des weissrussischen Oppositionskandidaten Wiktor Babariko. Sie zeigt sich im Interview zuversichtlich, dass es zu einem Wandel kommen wird.
SRF News: Ganz Weissrussland ist in einer schwierigen Situation und Sie persönlich besonders. Wie sehen Sie die Lage heute für sich und die Gegner Lukaschenkos?
Maria Kalesnikawa: Für uns hat jetzt eine neue, zweite Phase nach den Wahlen begonnen. Wir haben einen Koordinationsrat auf die Beine gestellt. So etwas hat es noch nie zuvor in Weissrussland gegeben. Wir fühlen eine grosse Verantwortung für die Zukunft unseres Landes.
Dieser Koordinationsrat soll 70 Personen umfassen. Täuscht der Eindruck, oder fehlt der Opposition in Weissrussland zurzeit nicht eine starke Persönlichkeit, welche die Menschen hinter sich eint?
Das ist eine schwierige Frage. Erstens einmal bilden wir die Mehrheit – und wir fühlen uns deswegen nicht in der Rolle der Opposition. Natürlich, es ist leichter eine Person als Leader zu bezeichnen und alle Verantwortung auf eine Person abzuschieben. Das funktioniert aber nicht. Wir sehen in unserem Land exemplarisch an Lukaschenko, wie schlecht dies funktioniert.
Die einzige Person, die Angst haben muss ist Lukaschenko. Denn von einer klaren Mehrheit der Bevölkerung in unserem Land wird er nicht mehr als Präsident akzeptiert.
Könnte Alexander Lukaschenko diese Zeit, während sie sich absprechen und finden müssen, nicht ausnutzen, um einen Weg zu finden an der Macht zu bleiben?
Nein, davor habe ich keine Angst. Die einzige Person, die Angst haben muss ist Lukaschenko. Denn von einer klaren Mehrheit der Bevölkerung in unserem Land wird er nicht mehr als Präsident akzeptiert. Der Versuch weiter dagegen mit Gewalt vorzugehen wird scheitern. Früher oder später wird es zu einem Machtwechsel kommen. Am Wahlsonntag hat für alle Menschen in unserem Land ein neues Leben begonnen. Uns steht eine riesige Arbeit bevor und es liegt in der Verantwortung eines jeden Menschen in unserem Land.
Weissrussland ist durch seine geografische Lage in einer schwierigen Situation. Russland im Osten und die EU im Westen. Beide Seiten haben ihre Interessen. Ist es ihnen wirklich möglich unabhängige Entscheide zu fällen?
Ich habe das Gefühl, dass man uns dies einreden will. Seit 100 Jahren sagt man uns, Weissrussland sei abhängig von den Interessen verschiedener Seiten. Heute ist dies einerseits die EU – andererseits Russland. Ich bin fest davon überzeugt, dass in erster Linie die Interessen von Weissrussland zählen. Gerade Lukaschenko versucht uns damit zu manipulieren. Er behauptet Russland sei bereit militärisch zu Hilfe zu eilen. Ich bin aber sicher, dass es für Russland wichtig ist eine pragmatische Partnerschaft zu haben. Es ist für alle klar, dass Russland keinen Krieg will.
Putin wird die Situation aber mit Sorge betrachten. Denken Sie nicht, dass er aus Angst, ihm könnte das gleiche Schicksal wie Lukaschenko drohen, nicht doch klarer auf die Seite Lukaschenkos schlagen wird?
Die Entscheidung, unter welchem Präsidenten es leben möchte, liegt beim russischen Volk. Ich respektiere diese Wahl. Wir haben unsere Wahl getroffen – eine Mehrheit hat für Tichanowskaja gestimmt. Wir brauchen jetzt Neuwahlen. Echte Wahlen, wie wir sie seit 26 Jahren nicht hatten. Wenn das russische Volk spürt, dass es auch dafür bereit ist, liegt es an ihnen – nicht an uns.
Fühlen Sie sich sicher im Land – auch für ihre Freunde und Familie?
Ich persönlich fühle mich sicher. Aber viele Freunde und Menschen, die mir nahe stehen, sind noch immer in den Gefängnissen des KGB. Ich habe viel mehr Angst, dass sie noch längere Zeit in Haft sind, als dass ich Angst um mich selbst hätte.
Das Interview führte Luzia Tschirky.