Jair Bolsonaro rollt im offenen Rolls-Royce in die Hauptstadt Brasilia ein, am Steuer der Ex-Formel-1-Pilot Nelson Piquet. Auf der Esplanade im Zentrum der Macht des Landes, umrahmt von den Gebäuden der Ministerien, empfingen ihn Zehntausende, viele mit antidemokratischen Protestplakaten wie «Oberstes Gericht schliessen!» oder «Streitkräfte einschalten!»
Die massiven Proteste gestern waren für Bolsonaro ein Etappenziel. Er hat erreicht, was er wollte: Bilder zur Demonstration seiner Macht. Diese braucht er, weil es derzeit alles andere als rund läuft für ihn. Hunger und Inflation sind zurück in Brasilien. Die Zahl der Pandemie-Toten liegt bald bei 580’000. Nachforschungen zu Korruption beim Einkauf von Impfungen laufen. Dazu kommt eine heftige Dürre.
Die Beliebtheit des Präsidenten ist auf einem Tiefpunkt: In Umfragen hat Bolsonaro eine Unterstützung von gerade mal 25 Prozent. Zwei von drei Brasilianerinnen und Brasilianern bezeichnen ihn als «autoritär».
Das bedeutet: In einem Land mit rund 210 Millionen Einwohnern gibt die Zahl derer, die gestern auf die Strasse gingen, machtvolle Bilder her – aber sie spiegeln nicht das wider, was die Mehrheit der Brasilianer denkt. Dennoch funktioniert das Narrativ der Massenmobilisation, vor allem für Bolsonaros Anhänger, die sich nach den Demonstrationen bestärkt fühlen dürften.
Während andere sich immer mehr um die Zukunft des Landes sorgen: Der antidemokratische Diskurs regt bei Bolsonaros Anhängern Umsturzfantasien an. Milizen und Militärpolizei stehen hinter dem Präsidenten. Wie das Militär sich positioniert, ist unklar. Bolsonaro ermutigt derweil seine Anhänger, sich zu bewaffnen, mit Sätzen wie: «Ein bewaffnetes Volk wird niemals unterworfen».
In seinen Ansprachen in Brasilia und später in São Paulo drohte Bolsonaro einmal mehr dem Obersten Gericht: Er werde Entscheidungen von Richter Alexandre De Moraes nicht länger akzeptieren, auch «die Geduld des Volkes sei am Ende».
Das Gericht ermittelt gegen ihn, weil er mehrfach Falschinformationen verbreitet hat und Zweifel am Wahlsystem schürte. Bolsonaro hat zudem bereits gedroht, dass es in Brasilien bald noch heftiger werden könnte als am Kapitol. Die Proteste gestern hatte er im Vorfeld als «Ultimatum» für das Oberste Gericht bezeichnet.
Sterben oder siegen
Er sehe nur Gefängnis, Tod oder Sieg als Zukunftsoption für sich, sagte Bolsonaro vor ein paar Tagen – und schloss Gefängnis dann auch gleich selbst wieder aus. Lebensbedrohliche Krankheiten scheint er auch nicht zu haben, zumindest wurden im Juli keine festgestellt, als er im Spital behandelt wurde oder zumindest wurde nichts darüber bekannt.
Das heisst: Von den drei Optionen bleibt nur der Sieg. Dass Bolsonaro diesen an der Wahlurne erreichen kann, danach sieht zumindest derzeit nicht aus. Gleichzeitig lässt er keinen Zweifel daran: Den Präsidentenpalast will er im nächsten Jahr nicht verlassen.