Am Oberlandesgericht in Frankfurt beginnt am Vormittag der Prozess im Mordfall Walter Lübcke. Der Regierungspräsident von Kassel war vor einem Jahr zu Hause erschossen worden. Stephan E. soll abgedrückt, Markus H. geholfen haben. Es ist das erste Mal seit der Gründung der Bundesrepublik, dass ein Politiker von einem Rechtsradikalen ermordet wurde.
SRF News: Die Tat war ein Schock. War sie auch ein Wendepunkt in Deutschland?
Peter Voegeli: Ja. Ich denke, dass Deutschland seither rechtsextremistischen Terror nicht länger als Taten von einsamen Wölfen betrachtet. Zwar waren die zehn Morde, 15 Raubüberfälle und drei Sprengstoffanschläge des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) Signal genug. Aber der Mord an Lübcke hat den Politikern vor Augen geführt: Sie zielen auf uns und direkt auf den Staat.
Wie stark ist die Beweislage?
Sehr stark. Es gibt DNA-Spuren von Stephan E. an den Kleidern von Lübcke und an der Tatwaffe. Es gibt ein Geständnis, das wenig glaubhaft widerrufen wurde.
Wie glaubwürdig ist die Annahme, dass die Angeklagten allein gehandelt haben?
Im Zeitalter von Social Media kann man das nicht mehr auf die traditionelle Art betrachten. Vielleicht war Stephan E. im klassischen Sinne der Alleintäter, vielleicht hat Markus H. geholfen oder war sogar dabei. Es gibt aber ein ganzes Umfeld in sozialen Foren, das sich befeuert. Insofern ist eine solche Tat immer in einem Kontext zu sehen.
Gab es Verbindungen zum NSU?
Walter Lübcke war auf einer NSU-Liste. Ein verdächtiger V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes, der mit dem NSU zu tun hatte, war auch mit Stephan E. dienstlich befasst. Der mitangeklagte Markus H. hatte sich nach einem der NSU-Morde auffällig oft im Internet für diesen Fall interessiert.
Welche Rolle spielt die Alternative für Deutschland (AfD) in diesem Kontext?
Stephan E. und dessen rechtsextreme Gesinnung sind dokumentiert. Er klebte für die AfD Plakate und nahm an einer Wahlparty teil. Auch war er am berüchtigten Schweigemarsch der AfD in Chemnitz vor zwei Jahren. Direkt kann man der AfD sicher nicht vorwerfen, dass sich ein mutmasslicher Mörder einer Demonstration anschliesst. Aber genau an dieser Demonstration hatte sich die AfD bewusst nicht nach rechts abgegrenzt. Die fehlende Abgrenzung zu Rechtsextremen ist heute ein Problem. Auch wenn sich sogenannt «normale Bürger» solchen Demos anschliessen, weil ihnen die rechtsextremen Organisatoren egal sind.
Stephan E. war nach Angriffen auf Flüchtlinge und einen Iman einschlägig vorbestraft. Warum war er nicht mehr auf dem Radar des Verfassungsschutzes?
Es gab tatsächlich in den letzten 25 Jahren etwa 40 Ermittlungsverfahren gegen Stephan E. Die Justiz war immer gnädig, was auffällt. Seit 2009 ist er nicht mehr aufgefallen, und deswegen war er nicht mehr auf dem Radar. Denn wer fünf Jahre lang nicht mehr als extremistisch auffällt, dessen Daten werden gelöscht.
Wie hoch ist die Bedrohung von Kommunalpolitikerinnen und -politikern in Deutschland?
Es gibt seit der Flüchtlingskrise von 2015 immer wieder und immer mehr Bedrohungen und Angriffe gegen Kommunalpolitiker. Besonders prominent war die Messerattacke auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker vor knapp fünf Jahren. 64 Prozent der Bürgermeister gaben in einer Umfrage an, schon einmal beschimpft, bedroht oder tätlich angegriffen worden zu sein. Viele geben die Posten auf. In Hessen wurde mangels Kandidaten gar ein rechtsextremer NPD-ler zum Ortsvorsteher gewählt.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.