Zum Inhalt springen

Rebellen mit Megafonen Wenn mutige Menschen Massen mobilisieren

Massenbewegungen sind die sozialen Katalysatoren des Umbruchs. Aber in ihnen sind es einzelne Menschen, die diese Massen inspirieren. Sechs solcher mutigen Menschen stellen ihnen SRF-Auslandkorrespondenten vor. Sie riskieren in Konflikten rund um die Welt mit ihrem Protest ihre Freiheit und bisweilen ihr Leben.

«Ich bin eine Abtreiberin» - Abtreibungs-Aktivistin in Polen

Von Roman Fillinger

Eigentlich sei sie ein unpolitischer Mensch, sagt Anna Parzynska. Die Gynäkologin ist als «Doktor Ashtanga» auf den sozialen Medien unterwegs. Auf ihren Kanälen dreht sich alles um Yoga. Bis sie letzten Sommer neben ihre Yoga-Bilder plötzlich eines von sich im blutverschmierten Operationskittel stellt, begleitet von einem Text, in dem sie die Abtreibung eines Fötus mit Trisomie-13 schildert. Kurz darauf erscheint in einer polnischen Frauenzeitschrift ein Portrait von ihr unter dem Titel: «Ich bin eine Abtreiberin».

Nach dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts im Oktober, das Abtreibungen in Polen praktisch vollständig verbietet, engagiert sich die Mitdreissigerin noch mehr im Kampf für ein liberaleres Abtreibungsrecht. Sie demonstriert, gibt zahlreiche Interviews und berät Schwangere, die trotz der strengen Regeln abtreiben wollen.

«Eine Abtreibung ist nie eine gute Lösung. Aber im Falle von Föten mit schweren Missbildungen ist es für meine Patientinnen oft die beste Lösung», sagt Parzynska. Das fast vollständige Verbot von Abtreibungen verunmögliche es ihr, ihren ärztlichen Eid zu erfüllen.

Nach Monaten des Engagements ist Parzynska ernüchtert. Die rechtskonservative Regierung Polens ist nach wie vor an der Macht, die Bewegung gegen das strenge Abtreibungsrecht ist geschrumpft. Auch die Gynäkologin postet heute wieder Yoga-Bilder.

Abtreibungsrechts- und Regierungsproteste in Polen

Box aufklappen Box zuklappen
Eine Abtreibungsrecht-Demonstrantin hält das Protest-Emblem einer Polizistin in Kampfmontur entgegen.
Legende: keystone

Trotz Versammlungsverbot wegen der Pandemie erlebt Polen im Spätherbst die grössten Demonstrationen seit dem Ende des Kommunismus. Hunderttausende fordern ein liberaleres Abtreibungsrecht und den Rücktritt der rechtskonservativen Regierung.

Auslöser der Proteste ist ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts. Die Richterinnen und Richter urteilen, das geltende – im internationalen Vergleich schon strenge – polnische Abtreibungsrecht sei unvereinbar mit dem in der Verfassung garantierten Schutz des Lebens.

Seit der Veröffentlichung des Urteils sind in Polen Schwangerschaftsabbrüche nur noch dann erlaubt, wenn das Leben der Mutter bedroht ist oder wenn die Schwangerschaft die Folge einer Vergewaltigung oder von Inzest ist. Der bis dahin häufigste Grund für eine legale Abtreibung in Polen, eine schwere Missbildung des Fötus, gilt nicht mehr.

Noch monatelang wird gegen das fast vollständige Abtreibungsverbot demonstriert. Aber die Proteste werden immer kleiner.

«Ali» - Der Demonstrant im Irak, der nie Frieden erlebte

Von Susanne Brunner

«Ali»: so nennen sich alle Demonstranten im Irak, die aus Angst vor Gewalt gegen sie und ihre Familien ihren richtigen Namen nicht nennen wollen. «Ali» ist einer von Hundertausenden, die ab Oktober 2019 gegen die Regierung und für ein besseres Leben demonstriert haben.

Ich hoffe, ich überlebe dieses Jahr.
Autor: «Ali»

Warum er demonstriert: weil er findet, sein Land müsse die Stimme des Volkes, vor allem der Armen, hören. Wie alle anderen im Irak, hat er nie Frieden erlebt. «Seit ich geboren wurde, habe ich nie eine gute Zeit erlebt. Keine einzige noch lebende Generation im Irak hat einen guten Irak erlebt.» Als Kleinkind erlebte er die harte Zeit der internationalen Sanktionen nach dem ersten Golfkrieg. Zur Zeit der US-Invasion des Irak 2003 war er 17. Dann kamen die Terrorjahre: zuerst Al Kaida, dann 2014 bis 2017 der IS. Seither hat Iran immer mehr Einfluss gewonnen, auch mit Dutzenden von Milizen. Demonstranten wie «Ali» machen diese auch für die Ermordung und Verschleppung von Aktivisten, Demonstrantinnen, Journalisten und Intellektuellen verantwortlich. Er selbst fürchtet, von ihnen aufgespürt und getötet zu werden. Das ständige Versteckspiel setzt ihm psychisch zu. «Das müsste alles nicht sein», sagte er noch 2020. «Der Irak hat eigentlich alles: Öl, Landwirtschaft, eine gut ausgebildete Bevölkerung.»

Aber 2021 verliert er immer wieder die Hoffnung. «Das Chaos in Bagdad wird mit jedem Tag grösser,» schreibt er. «Die Milizen mit jedem Tag stärker. Ich hoffe, ich überlebe dieses Jahr.»

Massenproteste im Irak 2019-2021

Box aufklappen Box zuklappen
Demonstrierende in Bagdad
Legende: keystone

Am 1. Oktober 2019 entflammten in Bagdad Proteste gegen Arbeitslosigkeit, mangelnde Grundversorgung und Korruption. Sicherheitskräfte und bewaffnete Gruppen gingen bereits in den ersten Tagen der Unruhen mit tödlicher Gewalt gegen die Demonstrierenden vor. Dennoch wurde aus den Protesten Massendemonstrationen: nicht nur in der irakischen Hauptstadt, auch in anderen Landesteilen.

Die Demonstrierenden forderten ein würdigeres Leben, grundlegende staatliche Dienstleistungen und das Ende der Einflussnahme durch Iran und die USA. Premierminister Adel Abdel Mahdi trat zurück, und der landesweit respektierte schiitische Grossayatollah Ali Al-Sistani forderte die Regierung auf, Gewalt gegen die Demonstranten zu vermeiden und ihren Forderungen nachzukommen.

Über 600 Zivilisten wurden getötet, Tausende zum Teil schwer verletzt, Hunderte entführt. Bis heute fordern Demonstrierende vergeblich, dass diese Verbrechen aufgeklärt werden.

«Ein gefährliches Abenteuer» - Elektroingenieur und Revolutionär in Sudan

Von Samuel Burri

«Scharfschützen haben vom Dach auf uns geschossen. Es war ein Abenteuer, ein gefährliches Abenteuer.» Heute lacht Ahmed, wenn er vom Aufstand in Khartoum erzählt. Doch damals hatte der Student sein Leben riskiert. «Leben oder Tod, das war egal – unter diesem brutalen Regime und mit der Wirtschaftskrise.»

Ich würde gerne etwas erreichen im Leben.
Autor: Ahmed Ibrahim

Ganz normale Studierende wie Ahmed waren die Treiber der Revolution in Sudan. Sie besetzten die Strasse vor dem Armeehauptquartier und übernachteten dort in selbstgebastelten Zelten, auf Sofas am Strassenrand. Im Verlauf der Proteste wurden über hundert Menschen getötet, viele wurden verhaftet und von Sicherheitskräften gefoltert.

Heute sitzt Ahmed zuhause bei seinen Eltern und langweilt sich. Im Herbst 2020 hat er sein Studium als Elektroingenieur abgeschlossen. Doch er findet keine Arbeit. «Das nervt gewaltig. Es ist praktisch unmöglich derzeit, einen Job zu kriegen», seufzt er.

Ahmed ist 24 Jahre alt und auf der Suche nach einer Zukunft. «Ich würde gerne etwas erreichen im Leben», sagt er. Viele Junge in Sudan würden aufgrund der wirtschaftlichen Lage mit dem Gedanken spielen, das Land zu verlassen. Auch Ahmed schmiedet Pläne: «Vielleicht gehe ich nach Katar, dort habe ich Verwandte, und dort gibt es auch Arbeit.»

Der Aufstand in Sudan

Box aufklappen Box zuklappen
Studenten gehen in Atbara in Sudan auf die Strasse.
Legende: keystone

Es kam unerwartet. Fast 30 Jahre hatte Sudans Präsident Omar al-Baschir das Land fest im Griff. Am 11. April 2019, nach wochenlangen Protesten, wurde er vom Militär abgesetzt.

Begonnen hatte es mit einem «Brotaufstand». In der Kleinstadt Atbara gingen Studierende auf die Strasse. Nachdem der Staat Subventionen gestrichen hatte, waren die Brotpreise aufs Dreifache gestiegen. Eine hohe Inflation erschwerte das Leben zusätzlich.

Die Proteste breiteten sich aus und erreichten im April 2019 die Hauptstadt Khartum. Vor dem Armeehauptquartier kam es zu einer Sitzblockade. Schliesslich liessen die Generäle Präsident Baschir fallen – und wollten selbst die Macht übernehmen.

Doch das liess die erstarkte Zivilgesellschaft Sudans nicht zu. Schliesslich einigte man sich auf eine Übergangsregierung mit dem Militär und Zivilisten. Ende 2022 sollen in Sudan Wahlen stattfinden.

«Maria, Maria» - die Ikone von Minsk

Von David Nauer

Sie hätte ein ruhiges, sicheres Leben haben können: als Musikerin in Deutschland. Aber sie entschied sich, in ihre Heimat zurückzukehren und zu kämpfen. Maria Kolesnikova, 38, ist im Sommer 2020 zum Symbol des belarussischen Volksaufstandes gegen Diktator Alexander Lukaschenko geworden. Vor der belarussischen Präsidentschaftswahl unterstützte sie den Oppositionskandidaten Wiktor Babariko. Als dieser verhaftet wurde, übernahm sie selbst eine Führungsrolle im Widerstand gegen das Regime.

Friedlich - aber hartnäckig: So kämpfte Kolesnikova auf den Strassen ihrer Heimatstadt Minsk für einen demokratischen Wandel. Mit ihren knallroten Lippen und den kurzen blondierten Haaren wurde sie bald zur Ikone der Bewegung. «Maria, Maria», rief die Menge häufig an Demonstrationen. Am 7. September 2020 wurde Maria Kolesnikova vom Geheimdienst festgenommen. Das Regime wollte die letzte im Land verbliebene Oppositionsführerin in die Ukraine abschieben - aber sie widersetzte sich. Seither sitzt sie als politische Gefangene in Haft. Ihr drohen mehrere Jahre hinter Gittern. Kolesnikova ist trotz dieser düsteren Aussichten ungebrochen. Mit Briefen und Nachrichten, welche die Anwälte überbringen, setzt sie ihren politischen Kampf fort. Unter anderem arbeitet sie an der Gründung einer Oppositionspartei.

Belarus - ein Land erhebt sich

Box aufklappen Box zuklappen
Freiheits-Aktivistin Maria Kolesnikova spricht durch ein Megaphon.
Legende: keystone

Seit bald 27 Jahren regiert Alexander Lukaschenko Belarus mit eiserner Hand. Die Opposition ist längst mundtot gemacht - oder ins Ausland vertrieben. Aber der Autokrat von Minsk hat nicht mit seinem Volk gerechnet: Mit einer dreist gefälschten Präsidentschaftswahl wollte er sich im Sommer 2020 für eine weitere Amtszeit bestätigen lassen. Die Reaktion waren heftige Massenproteste. Über hunderttausend Belarussinnen und Belarussen demonstrierten im ganzen Land gegen das Regime.

Lukaschenko liess Zehntausende festnehmen, die Polizei prügelte, setzte Schusswaffen ein - es gibt unzählige Berichte von Folterungen. Die Strassen des Landes hat Autokrat Lukaschenko zurückerobert - nicht aber die Herzen der Menschen. Noch immer wagen Mutige täglich kleine Protestaktionen. Experten sagen, dass eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung den Langzeitherrscher weghaben will. Doch Lukaschenko stützt sich auf mächtige Verbündete: neben seinem Sicherheitsapparat steht auch Russland treu an seiner Seite.

«Ein normaler Teenager» - BLM-Aktivist im erz-konservativen Virginia

Von Isabelle Jacobi

«Eigentlich bin ich ja ein ganz normaler Teenager», sagt Travon Brown über sich. Doch die «Black Lives Matter»-Bewegung (BLM) hat sein Leben verändert. Heute kämpft er gegen den Rassismus in der Kleinstadt Marion im Suedstaat Virginia.

Letzten Sommer ging er auf die Strassen, nachdem der Afroamerikaner George Floyd im Würgegriff eines Polizisten vor laufender Kammer gestorben war. «I can’t breathe» wurde zum Protestslogan einer jungen afroamerikanischen Generation, die genug hat von struktureller Diskriminierung und Aggressionen. Travon Brown nahm an BLM-Protesten im Nachbarstaat Kentucky teil und kam so auf die Idee, auch in seiner erz-konservativen Heimatstadt Marion eine BLM-Bewegung ins Leben zu rufen. Im Juni und Juli 2020 organisierte er zwei Protetstzüge, die eigentlich friedlich verliefen, obwohl rechtsradikale Gruppen zu Gegenprotesten aufmarschierten.

Doch danach erlebten Travon Brown und seine Familie einen bedrohlichen Backlash. Ein Nachbar verbrannte ein Kreuz im Vorgarten der Browns, und seine Schwester wurde mit einer Pistole bedroht. Die Bundespolizei FBI schaltete sich ein, doch die lokalen Behörden versuchten die rassistischen Vorfälle unter den Teppich zu kehren. Doch Travon Brown und seine Mitstreitenden liessen nicht locker, bis der Bürgermeister eine Anti-Rassimus-Erklärung unterschrieb.

Travon Brown zog im Alter von 10 Jahren aus dem Südstaat Mississippi nach Marion in Südwest-Virginia, eine der konservativsten Gegenden in den USA mit einer langen rassistischen Vergangenheit. Als Herbeigezogener habe er sofort gesehen, wie unterdrückt die afroamerikanische Minderheit in Marion sei. Deshalb geht er im blauen Overall, mit Dread-Locks und einem Megaphon auf die Strasse und verlangt Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, jetzt und heute.

Die BLM-Bewegung

Box aufklappen Box zuklappen
Ein «Black Lives Matter»-Aktivist in Virginia (USA) trägt eine Fahne der Bewegung.
Legende: keystone

«Black Lives Matter» ist eine Protestbewegung, die sich gegen Gewalt gegen Schwarze und People of Color richtet. Sie entstand in den USA nach dem Todesfall des afroamerikanischen Teenagers Trayvon Martin im Jahr 2013 in Ferguson, Missouri. Seither kommt es regelmässig zu Unruhen, wenn Afromaerikaner oder Afroamerikanerinnen in Zusammenstössen mit Polizeikräften ihr Leben verlieren. BLM ist eine dezentral organisierte Bewegung, die inzwischen grossen Einfluss auf die Politik gewonnen hat. Nach dem Tod von George Floyd in Minneapolis im Frühsommer 2020 organisierten BLM-Gruppen in hunderten von US-Städten Protestmärsche, die zum Teil zu gewalttätigen Ausschreitungen führten, aber grösstenteils friedlich verliefen.

Im Exil - Aktivist der Hongkonger Demokratiebewegung

Von Martin Aldrovandi

Der 27-jährige Nathan Law gehört zu den bekanntesten Hongkonger Demokratieaktivisten. Sein bisheriges Leben verlief wie eine Achterbahnfahrt. Er sass als jüngster Abgeordneter im Parlament Hongkongs, wurde nachträglich disqualifiziert und aus dem Parlament geworfen und sass im Gefängnis. Nathan Law war Mitgründer der Partei Demosisto, die jedoch letztes Jahr aufgelöst wurde.

Er gab unermüdlich Interviews und warb international für die Anliegen der Demokratiebewegung. Er traf sich mit ausländischen Politikerinnen, Nichtregierungsorganisationen, lobbyierte bei der US-Regierung, die schliesslich Sanktionen gegen Hongkong verhängte.

Im Sommer 2020 floh er aus Hongkong, Nathan Law lebt jetzt im Exil in Grossbritannien. Seine Arbeit als Aktivist führt er von London aus fort. Laws Vertrauten Agnes Chow und Joshua Wong sitzen beide in Hongkong im Gefängnis.

Demokratiebewegung in Hongkong

Box aufklappen Box zuklappen
Aktivist Nathan Law Kwun-chung spricht zu Demonstranten während einer Kundgebung vor dem Justizministerium in Hongkong
Legende: keystone

Im Frühsommer 2019 blockierten Demonstrantinnen und Demonstranten die Zufahrt zum Parlament. Dort sollte über ein umstrittenes Auslieferungsgesetz debattiert werden. Zuvor protestierte bereits über eine Million Menschen auf den Strassen gegen das Gesetz.

Die Bewegung 2019 sollte schliesslich über Monate andauern. Sie war - anders als die Regenschirmproteste von 2014 – äusserst dezentral organisiert. Die Regierung zog das Auslieferungsgesetz schliesslich zurück.

Bei den Bezirksratswahlen im Herbst 2019 kam es zu einem überwältigenden Sieg des demokratischen Lagers. Für die Hongkonger Regierung und die Zentralregierung in Peking war dies ein Schock. Die Machthaber schlugen zurück und gingen gegen die Aktivisten vor. Mit dem Nationalen Sicherheitsgesetz und einer Wahlreform beendeten sie de facto die Demokratiebewegung.

Heute sind die meisten Aktivistinnen und Aktivisten entweder in Haft, vor Gericht oder leben im Exil.

Podcast News Plus Hintergründe

Aufwändig recherchierte Geschichten, die in der Schweiz zu reden geben. Ob Wirtschaftsskandal, Justizkrimi oder Politthriller – in News Plus Hintergründe gibt es die ganze Story.

Weitere Audios und Podcasts

Podcast SRF News; 9.4.21, 16 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel