Die ukrainische Armee hat in den vergangenen Tagen nach eigenen Angaben zahlreiche Städte und Dörfer in der Region von Charkiw in der Ostukraine zurückerobert. Vielerorts musste sich die russische Armee offenbar zurückziehen. Ob dies ein Wendepunkt im Krieg sein könnte, versucht der ehemalige SRF-Russland-Korrespondent David Nauer einzuschätzen.
SRF News: Was weiss man über die neusten Entwicklungen im Krieg?
David Nauer: Die Ukrainer haben am Wochenende die russischen Verteidigungslinien im Norden des Landes bei Charkiw regelrecht überrannt. Die Russen rechneten offenbar nicht mit diesem Angriff. Sicher weiss man, dass mehrere Städte und Dutzende Dörfer von den ukrainischen Truppen befreit wurden.
Das Ganze ist eine schwere Niederlage für die russische Armee.
Das Gebiet ist wichtig für die Russen – sie haben von dort Teile ihrer Truppen im Donbass südlich von Charkiw versorgt, was jetzt nicht mehr möglich ist. Das Ganze ist also eine schwere Niederlage für die russische Armee. Das gesamte Ausmass ist allerdings noch unklar, alles ist noch im Fluss.
Wie reagiert die Bevölkerung in Russland auf diese Entwicklung?
Viele reagieren gar nicht. So fand am Wochenende in Moskau ein riesiges Volksfest mit Feuerwerk und Tänzen statt – während die russischen Soldaten in der Ukraine fliehen mussten. Das wirkt etwas surreal.
Eine unerhörte Gleichgültigkeit – auch gegenüber den eigenen, russischen Soldaten.
Offenbar sind viele Russinnen und Russen der Meinung, sie könnten sowieso nichts beeinflussen, der Kreml entscheide sowieso, also müssten sie sich nicht darum kümmern, was in der Ukraine passiert. Es ist eine unerhörte Gleichgültigkeit zu spüren – gegenüber den Ukrainerinnen und Ukrainern, aber auch gegenüber der eigenen Soldaten. Kritik kommt von russischen Hardlinern.
Was läuft aus deren Sicht falsch in der Ukraine?
In ihren Augen versagt die russische Armee, der Kreml sei viel zu zögerlich in diesem Krieg. Diese Ultra-Nationalisten und Hardliner fordern eine Generalmobilmachung, damit Hunderttausende Männer in den Krieg gegen die Ukraine ziehen könnten.
Manche fordern den Einsatz einer Atombombe, um die Ukrainer einzuschüchtern.
Im Staatsfernsehen wird auch gefordert, dass die Russen vermehrt zivile Ziele angreifen sollten. Manche fordern sogar den Einsatz einer Atombombe, um die Ukrainer einzuschüchtern.
Welche realistischen Optionen hat Russlands Präsident Wladimir Putin bei seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine noch?
Immer weniger. Offenbar können die Russen mit konventionellen militärischen Mitteln gegen die Ukrainer wenig ausrichten – im Frühling musste schon die Einnahme von Kiew abgeblasen werden, und jetzt stellt sich heraus, dass die Russen nicht einmal im Osten die Front halten können. Die russische Armee ist schwächer, die Kriegstechnologie rückständiger und die Kampfmoral schlechter als gedacht.
Putin könnte die ukrainische Bevölkerung immer noch zermürben und ihr Leben unerträglich machen.
Putin kann die ukrainische Bevölkerung aber immer noch zermürben und ihr Leben unerträglich machen – etwa indem er zivile Infrastrukturen angreift und Strom-, Wasser oder Fernheizungssysteme zerstören lässt. Das wäre im Hinblick auf den nahenden Winter natürlich fatal.
Wie stehen die Chancen für eine diplomatische Lösung?
Die sind derzeit wohl nur klein. Putin hat diesen Krieg begonnen, er kann jetzt nicht einfach abziehen, ohne etwas Substanzielles gewonnen zu haben. Das würde ihn innenpolitisch viel zu stark unter Druck bringen. Und auch die Ukrainer wollen derzeit nicht verhandeln: Sie fühlen sich militärisch stark und wollen besetztes Land zurückerobern. Es besteht also eine Situation, in der niemand reden will, deshalb wird der Krieg vorerst wohl einfach weitergehen.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.