Was macht ein Schriftsteller, wenn sein Land in Aufruhr ist? Viktor Martinowitsch schreibt. «Ich schreibe Tagebuch. Ich beobachte was passiert und schreibe es auf.» Der 42-Jährige ist einer der bekanntesten weissrussischen Autoren.
Sein anti-utopischer Roman «Mowa», der auch ins Deutsche übersetzt wurde, handelt von einem autoritären Staat, in dem sich die Menschen an verbotenen Sprachfetzen berauschen wie an einer Droge. Wer erwischt wird, dem droht die Todesstrafe.
«Im Moment aber», sagt Martinowitsch, «gibt die Realität mehr spannenden Stoff her als jede Fiktion.» Weissrussland ist in Aufruhr, weil sich Präsident Alexander Lukaschenko, der schon seit 26 Jahren regiert, eine weitere Amtszeit sichern will.
Für die Unzufriedenheit macht der Autor verschiedene Gründe aus: erstens gehe es der Wirtschaft schlecht, weil Russland kein verbilligtes Öl mehr liefere an die ehemalige Sowjetrepublik.
Jetzt gibt es sehr viele Leute, die gegen die Regierung sind – und deswegen versucht der Staat, alle einzuschüchtern.
Zweitens seien viele Menschen unzufrieden wie der Staat in der Coronakrise agiere. Lukaschenko hat die Epidemie als «Psychose» bezeichnet und kaum Massnahmen erlassen. Drittens gebe es erstmals starke Opponenten für den Langzeitherrscher. Um dieses «Problem» zu lösen, greift der Staat zu Massenrepressionen.
Mehrere hundert Personen sind schon festgenommen worden – darunter auch zwei aussichtsreiche Oppositionskandidaten. Der Amtsinhaber lässt jeden, der ihm gefährlich werden könnte, bereits vor dem Wahltag aus dem Weg räumen.
Wir fühlen uns eingesperrt in einem Raum, in dem Gewalt allgegenwärtig ist.
Schriftsteller Martinowitsch spricht von einer neuen Qualität der Unterdrückung. «Früher war nur eine Minderheit unzufrieden und die Repression punktuell. Jetzt gibt es sehr viele Leute, die gegen die Regierung sind – und deswegen versucht der Staat, alle einzuschüchtern.»
Lukaschenko hat lange mit dem stillen Einverständnis der Mehrheit regiert. Er führte das Land wie eine sowjetische Kolchose, paternalistisch, aber mit ausgebautem Sozialstaat. Doch diese Politik funktioniert nicht mehr.
«Sascha drei Prozent» ist inzwischen der Schlachtruf gegen Lukaschenko. «Sascha» ist der Kosename für Alexander – und drei Prozent ist das Resultat einer Onlineumfrage, die nach der Popularität des Staatschefs fragte.
Martinowitsch sagt, Lukaschenkos Popularitätswert sei bestimmt höher als drei Prozent – es gebe keine zuverlässigen Umfragen. «Aber auch drei Prozent können eine Wahl gewinnen. Nämlich dann, wenn 1.5 Prozent die Wahlzettel auszählen – und die anderen 1.5 Prozent gewaltsam gegen Proteste vorgehen dürfen.»
Es wirkt wie ein Hohn, dass Lukaschenko sich in den letzten Jahren versucht hat dem Westen anzunähern. Er grenzte sich von Russland ab und wurde vom Westen hofiert. Die EU hob sämtliche Sanktionen auf, auch die Amerikaner intensivierten die Beziehungen.
Ihn erschrecke, sagt Martinowitsch, dass Europa kaum reagiere auf die Ereignisse. «Wir fühlen uns eingesperrt in einem Raum, in dem Gewalt allgegenwärtig ist. Jeder Widerspruch führt dazu, dass du im Gefängnis landest. Du kannst nur da sitzen und dich fürchten. Das ist sehr schwer zu ertragen.»
Kürzlich wurde in Minsk nach massivem behördlichem Druck ein Laden geschlossen, dessen Eigentümer nie einen Hehl gemacht haben aus ihrer oppositionellen Gesinnung. Sie verkauften Souvenirs mit frechen Aufdrucken, aber auch weissrussische Literatur – darunter Werke von Martinowitsch.
Wörter werden verboten in Weissrussland – es ist schon fast wie in einem düsteren Roman.