Der Weg wird immer schmaler. Er führt an einfachen Hütten aus Bambus, Wellblech und Plastikplanen vorbei. In den engen Gassen zwischen den Hütten hängen Wäscheleinen mit Kleidern. Kleine Kinder spielen an offenen Abwasserkanälen. So, wie hier im Lager Zwölf, leben im Bezirk Cox's Bazar Hunderttausende Rohingya-Flüchtlinge.
Flucht vor der Rebellenarmee
Dilma Hammad öffnet die Tür zu seiner Hütte aus Bambus und Plastikplanen. Sie bietet gerade Platz für ein Bett. Darauf sitzt eine zarte, in rosa Tuch gehüllte Frau. Ihr ausgestrecktes rechtes Bein hält eine furchteinflössende Stahlschiene zusammen. Ende Juli sei sie mit Mann und Kind aus Myanmar geflohen, sagt die 31-jährige Jamida, die nur ihren Vornamen benutzt. Ihr Holzhaus im Grenzgebiet von Myanmar sei von der Arakan Army, einer mächtigen Rebellenarmee, mit Drohnen angegriffen worden.
Mehr als 8000 Rohingyas sollen nach offiziellen Angaben seit Ende Juli nach Bangladesch geflüchtet sein. Rohingya-Führer im Camp sprechen von 20'000 Neuankömmlingen.
Jamidas Bein wurde bei dem Drohnenangriff durch einen Splitter schwer verletzt. Bei der Flucht hätten vier Männer sie tragen müssen, erzählt die junge Mutter. Sie kann noch immer nicht gehen.
Mehr als 100 Schussverletzungen in einem Monat
Die Ärzteorganisationen Médécins sans frontières (MSF), die in den Camps sechs Spitäler betreibt, hat allein im August mehr als 100 Schusswunden von Neuankömmlingen behandelt. In mehr als der Hälfte der Fälle seien Frauen und Kinder betroffen, sagt MSF-Manager Anthony Caswell.
Jamida und ihre Familie kamen nachts heimlich über den Grenzfluss nach Bangladesch. Sie überlebten die gefährliche Überfahrt – im Gegensatz zu vielen anderen. Die Arakan Army beschoss Flüchtigen noch bei der Überfahrt mit Drohnen, wie Augenzeugen und Menschenrechtsorganisationen berichten. An einem einzigen Tag seien 200 Rohingyas getötet worden.
Auch in Bangladesch hiess sie niemand willkommen. Die Grenzschützer hätten ihren Mann sofort zurückgeschickt nach Myanmar. Nur die schwerverletzte Jamida durfte bleiben. Ihrem Mann gelang erst ein paar Tage später die erneute Flucht.
Die kleine Familie hat zwar ihr Leben gerettet, aber Bangladesch will Jamida und ihre Familie nicht haben. Die Regierung weigert sich, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Tausende Neuankömmlinge wie Jamida dürfen sich im Lager nicht registrieren. Damit haben sie auch kein Anrecht auf Lebensmittelrationen und Baumaterialien der internationalen Hilfsorganisationen, die überall im Bezirk Cox's Bazar präsent sind. Nur Jamidas Bein wird von der Ärzte-Organisation Médécins sans frontières versorgt.
Für alles andere sind die Neuankömmlinge auf Almosen ihrer Verwandten angewiesen. Menschen wie Hüttenbesitzer Dilma Hammad: Der 37-Jährige kam mit der ersten Flüchtlingswelle vor acht Jahren ins Lager, zusammen mit seiner Familie.
Kein Geld, kein Pass, keine Staatsbürgerschaft
«Damals hat uns die Regierung von Bangladesch noch geholfen», sagt Dilma Hammad. Jetzt nicht mehr. Darum habe er die Neuankömmlinge aufgenommen. Sie wohnten jetzt zu neunt in der kleinen, überhitzten Ein-Raum-Hütte. Auch die Reisrationen der Hilfsorganisationen, die eigentlich für seine sechsköpfige Familie gedacht sind, müssen jetzt für neun Menschen reichen.
Eine Dauerlösung ist das nicht. Aber auch Cox's Bazar sollte keine Dauerlösung sein. Und trotzdem leben Hunderttausende Flüchtlinge wie Dilma Hammad jetzt schon seit sieben Jahren hier im Camp. Wo sollen sie auch hin?
«Wir haben kein Geld, keinen Pass. Und nicht mal eine Staatsbürgerschaft.» Darum könnten sie hier nicht weg, sagt Hammad. Nicht einmal das Lager dürften sie verlassen. «Es ist wie in einem Gefängnis», sagt Dilma Hammad. Er macht sich Sorgen um die Zukunft, vor allem die seiner vier Kinder.
Ein Nachbar mischt sich ins Gespräch ein. Der heute 24-Jährige Abdullah kam, wie Hüttenbesitzer Dilma Hammad, mit der ersten Flüchtlingswelle vor acht Jahren ins Lager.
Mehr als die Hälfte der Lagerbewohner ist jung
In Myanmar sei er in der zehnten Klasse gewesen, sagt Abdullah. «Aber hier gibt es nichts für mich», sagt der junge Mann. Mehr als die Hälfte der Lagerbewohner ist jung und ohne Perspektive.
In Camp 16 hat die Schweizer Hilfsorganisation Helvetas ein Theaterprojekt organisiert. Der Sänger warnt die jungen Zuhörerinnen vor Kinderhochzeiten und dass sie nicht gut sind für Mädchen. Kinderhochzeiten seien ein grosses Problem im Lager, sagt Helvetas-Mitarbeiter Ashikur Rahman. Aber das allergrösste Problem sei die zunehmende Gewalt unter Rohingyas.
Kriminelle Banden verbreiten Angst und Schrecken
Es gebe diverse militante Banden in den Camps. Sie entführten Flüchtlinge, um Lösegeld zu erpressen. Sie seien in den grenzüberschreitenden Drogenhandel involviert, töteten alle, die sich in den Weg stellten, verbreiteten Angst und Schrecken. Viele lokale Mitarbeitende trauten sich kaum mehr zur Arbeit, sagt der Helvetas-Mitarbeiter. Nach drei Uhr nachmittags sei es gefährlich, in den Camps auf die Strasse zu gehen.
Bandengewalt in den Lagern ist ein Problem.
Denn dann übernimmt die «Nachtregierung» – ein Spitzname für die Herrschaft der kriminellen Gangs. Nach dem Regierungswechsel in Dhaka Anfang August habe es besonders schwere Zwischenfälle gegeben. Die Regierung versuche ihr Bestes, um die Gewalt in den Griff zu bekommen, sagt Helvetas-Mitarbeiter Rahman. Andere Quellen berichten, dass die Polizei im Lager unterbesetzt sei.
Mehr Konflikte und weniger Unterstützung
Eineinhalb Autostunden von den Flüchtlingscamps entfernt, in der Touristenstadt Cox’s Bazar, sitzt Shamsud Douza hinter einem grossen Schreibtisch mit Aktenbergen. Er ist der Flüchtlingsmanager der Regierung und zuständig für die Camps. «Bandengewalt in den Lagern ist ein Problem», bestätigt Douza. 200 Menschen seien ermordet worden in den letzten Jahren. Er sagt: Es seien genügend Polizisten im Einsatz, und auch der Geheimdienst. Aber das Umfeld sei schwierig.
Zu viele Menschen auf zu engem Raum. Drogenhandel sei weit verbreitet. Auch Konflikte zwischen Rohingyas und Einheimischen nähmen zu. Dazu immer mehr Flüchtlinge. Gleichzeitig reduzierten internationale Geldgeber die Unterstützung für die Rohingyas. In diesem Umfeld sei es schwierig, die öffentliche Sicherheit aufrechtzuerhalten.
Die Unruhen rund um den Regierungswechsel machten es nicht einfacher. Die Polizei sei nicht so schlagkräftig wie sonst, räumt Douza ein. Die neue Übergangsregierung unter Muhammad Yunus müsse jetzt entscheiden, wie es weitergehen soll im grössten Flüchtlingslager der Welt. Doch die hat andere Prioritäten.
Vorerst werde Bangladesch keine neuen Rohingya-Flüchtlinge aufnehmen. Alle anderen Flüchtlinge würden zurück nach Myanmar geschickt, sobald dort ein Leben in Würde möglich sei. Wann könnte das sein? Keine Ahnung, sagt der Flüchtlingsmanager der Regierung.
Zurück nach Myanmar? Unmöglich
Wenn man Neuankömmlinge wie Mohammad Aju fragt, gibt es überhaupt kein Zurück mehr. Der 21-Jährige ist vor ein paar Tagen in Cox' s Bazar angekommen.
«Meine Mutter, meine Schwester, mein Cousin – alle auf der Flucht erschossen. Ich bin der Einzige, der es geschafft hat», sagt er mit leeren Augen. Und der Vater? Verhaftet, von der Arakan Army, sagt Mohammad Aju. Wie fast alle anderen Männer in seinem Dorf. Zurück nach Myanmar? Unmöglich. In Bangladesch bleiben? Verboten. Wohin also? Mohammad Aju schüttelt leise den Kopf.
Er ziehe von Lager zu Lager. Keiner könne ihm helfen. Verloren zwischen den Welten. Von niemandem willkommen. Wie so viele hier.