Sie sei erschöpft, sagte Nicola Sturgeon heute vor den Medien. Mit gutem Grund: Die 53-jährige Firstministerin regiert Schottland seit acht Jahren. Politik sei ein brutales Geschäft, das einen extrem fordere.
Insbesondere die Verantwortung während der Pandemie sei enorm gewesen, bilanzierte die Regierungschefin. Die Beerdigung eines Freundes vor wenigen Tagen aber habe ihr definitiv bewusst gemacht, dass es Zeit sei, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.
Diese Erklärung klang so menschlich wie nachvollziehbar, aber es gibt durchaus politische Gründe, dass Sturgeon nun den Hut nimmt. Sie sei nicht sicher, ob sie auf dem Weg zur schottischen Unabhängigkeit noch Teil der Lösung sei oder mittlerweile eher ein Hindernis, meinte sie zum Abschied selbstkritisch.
Keine Einigkeit bei der Frage der Unabhängigkeit
In der Frage der Unabhängigkeit steckt Schottland in einer Sackgasse. Nicola Sturgeon führte ihre Schottische Nationalpartei (SNP) bei den Wahlen zwar jeweils von Sieg zu Sieg, aber es gelang ihr nicht, die Schottinnen und Schotten zu einen. Das Land ist in Sachen Unabhängigkeit bis heute gespalten. Vor wenigen Wochen kam die Niederlage vor dem Obersten britischen Gericht dazu.
Ohne die Erlaubnis der britischen Regierung in London darf Schottland kein Referendum ausrufen. Die Regierungschefin reagierte auf den Entscheid trotzig. Sturgeon verkündete, die nächsten Parlamentswahlen kurzerhand zu einem Unabhängigkeits-Referendum umdeuten zu wollen. Ob das wirklich eine gute Idee ist, bezweifeln mittlerweile selbst Leute in ihrer Partei.
Zuletzt war Nicola Sturgeon auch im politischen Tagesgeschäft mit allerhand Widerstand konfrontiert. Viel Kritik gab es beim sogenannten «Gender-Identifikations-Gesetz». Mit diesem neuen Gesetz soll eine administrative Änderung des Geschlechts einfacher werden. So soll etwa kein medizinisches Gutachten mehr für einen Änderungsantrag nötig sein, das Mindestalter von 18 auf 16 Jahre gesenkt werden.
Ob die heftigen Reaktionen auf diesen Entwurf ihren Rücktrittentscheid beeinflusst haben? Sturgeon verneinte die Frage einer Journalistin vehement. Tatsache ist jedoch, dass sie das Gendergesetz politisch extrem ins Rudern gebracht hat.
Ebenso die Frage, ob eine Transperson, die wegen Vergewaltigung verurteilt wurde, die Haftstrafe in einem Frauengefängnis absitzen darf. Die SNP wird wohl gut überlegen müssen, ob es weiterhin zielführend ist, wenn eine einzige Person die Rollen der Regierungschefin, Parteichefin und Leitfigur für die Unabhängigkeit ausfüllt.
Wer tritt in ihre Fussstapfen?
Mit Nicola Sturgeon verlässt eine ausserordentliche Figur die politische Bühne. Sie wurde die Stimme und das Gesicht Schottlands. Sie spielte auf der grossen Bühne und ist ebenso bekannt wie die britischen Premierminister.
Sturgeon ist eine hervorragende Kommunikatorin. Gleichzeitig ist die Parteichefin eine dominante Figur. Im öffentlichen Auftritt wirkte sie gelegentlich leicht bockig; insbesondere, wenn es um die Unabhängigkeit Schottlands ging.
Sturgeon hat angekündigt, dass sie Regierungs- und Parteichefin bleiben will, bis die Nachfolge geklärt ist. In der SNP gibt es durchaus Leute, die das nötige Format für das Amt haben. Finanzministerin Kate Forbes oder der stellvertretende SNP-Chef John Swinney werden genannt.
Eine Top-Kandidatur für die Nachfolge gibt es zur Stunde jedoch nicht. Im Schatten der Chefin wurde offenbar niemand aufgebaut, die oder der nun ins Scheinwerferlicht treten könnte.