Tudor Cernega ist Bürgermeister von Ceatalchioi, er lebt in einer Art Wurmfortsatz der Welt. In sein Dorf kommt man nur mit dem Schiff und über ungeteerte Strassen. Ceatalchioi klebt an Rumäniens nordöstlichem Rand, an der Scheidelinie zwischen Europäischer Union, Verteidigungsbündnis Nato und der Ukraine.
Hier, wo die Donau schon fast ins Schwarze Meer fliesst, trennen nur 400 Meter Wasser Rumänien von der Ukraine am anderen Flussufer. Gegenüber liegt Ismail, eine ukrainische Hafenstadt.
Einen ruhigeren Ort kann man sich kaum vorstellen, aber die Videos auf Tudor Cernegas Handy passen so gar nicht dazu: Eine Überwachungskamera zeigt drei Uhr morgens an, die Drohnen klingen, als würde ein Motorrad an der Bettkante vorbeirasen. Dann knattern die Salven der Luftabwehr in den Nachthimmel. Es ist der Klang von Lebensgefahr.
Drei russische Drohnen in Rumänien
Die Überwachungskamera hat gefilmt, wie Russland Ismail am anderen Flussufer mit Drohnen angreift. Das passiert regelmässig, zuletzt im Februar. Am Anfang, sagt der Bürgermeister, hätten auch die Leute auf der rumänischen Seite den Beschuss gefilmt.
«Aber heute laufen sie weg vom Ufer, wenn die Russen bombardieren, heute haben sie Angst.» Die Menschen sähen, wie die Drohnen über Rumänien, über Nato-Territorium wendeten, bevor sie die Ukraine angriffen.
«Als letztes Jahr sogar eine Drohne in Rumänien abstürzte, hat uns zuerst niemand geglaubt.» Aber hier im Dorf hatten die Menschen den lauten Knall gehört. Der Bürgermeister fand die Drohnenreste in einem Krater, inmitten verkohlter Bäume. Erst dann gab die rumänische Regierung den Absturz zu. Seither sind mindestens zwei weitere russische Drohnen in Rumänien abgestürzt.
Eine davon stürzte nicht weit weg von Daniela Tanases wettergegerbtem Häuschen im Weiler Plauru ab, der zum Dorf Ceatalchioi gehört. Die Häuser stehen hier weit verstreut übers flache Land. «Eines unserer alten Fenster ist kaputtgegangen.»
An manchen Tagen sind so viele ukrainische Schiffe unterwegs, dass sie nahe an unserem Ufer vorbeifahren müssen und unsere Fischernetze zerschneiden.
Daniela Tanase und ihr Mann haben ihr Haus so nah am Fluss gebaut, dass die trüben Wellen sich nur ein bisschen strecken müssten, um an Holz und Mörtel zu lecken, um Hühner, Schweine und Kühe zu umspülen. Problemlos könnte man rüberschwimmen nach Ismail, in die Ukraine.
Ukrainische Schiffe zerstören rumänische Netze
«Vor allem die alten Leute, die den Zweiten Weltkrieg und die Deportationen in die Sowjetunion erlebt haben, fürchten sich davor, dass der Russe zurückkommt an die Mündung der Donau», sagt Daniela Tanase. Auch wenn die Russen nicht nach Rumänien kommen, auch wenn keine Drohnen fliegen: Der Krieg am anderen Ufer macht den 20 rumänischen Familien hier vieles kaputt.
«An manchen Tagen sind so viele ukrainische Schiffe unterwegs, dass sie nahe an unserem Ufer vorbeifahren müssen und unsere Fischernetze zerschneiden.» Schiffe, die wegen der russischen Bomben über die Donau statt übers Schwarze Meer fahren.
Manchmal sind es auch die Erdklumpen, die die Schiffe mit ihren Ankern aus dem Flussbett reissen. Diese machen die rumänischen Fischernetze kaputt. Jedenfalls verlieren alle Familien hier viel Geld, alle leben vom Fischfang.
Neben Daniela Tanases Haus liegt ein Knäuel kaputter Netze, jedes habe 500 Franken gekostet, sagt sie. Ihr Mann könnte seine Fischerlizenz für eine gewisse Zeit verlieren, weil er dieses Jahr nicht genug Fische fangen wird. Sie findet, die rumänische Regierung müsste die Fischer entschädigen.
Schutzbunker ohne Schutz
Das tut die Regierung bis jetzt nicht – dafür hat das Verteidigungsministerium im Dorf zwei Schutzbunker aufgestellt. Sie sehen aus wie grosse Betonrohre, die Bauarbeiter beim Aufräumen vergessen haben, verborgen unter Camouflage-Planen.
Daniela Tanase nützen sie wenig, der nächste Bunker ist zwei Kilometer weit weg von ihrem Haus. Wenn jetzt die russischen Drohnen fliegen, rennen sie und ihr Mann hinter den Erdwall, der hundert Meter neben ihrem Haus die Äcker vor der Donau beschützt.
Es ist klar, dass die Ukraine gewinnen muss.
Manchmal spazieren jetzt rumänische Soldaten durchs Dorf; das Verteidigungsministerium schreibt Radio SRF, man sei auf alles vorbereitet, habe mehr Truppen in die Gegend verlegt und denke darüber nach, Wärmesensoren und Luftabwehr herzubringen. Rumänien sei sich der Bedrohung durch Russland vollauf bewusst.
Zu viel Hilfe für die Ukraine?
Bürgermeister Tudor Cernega sagt, die Menschen hier fühlten sich trotzdem nicht sicher. Dagegen helfe nur etwas. «Es ist klar, dass die Ukraine gewinnen muss.» Allerdings unterstützt der Bürgermeister die Ukraine nicht bedingungslos.
Er hat keine offiziellen Kontakte zur Stadtregierung von Ismail drüben, aber er habe gesehen, wie die Leute im Sommer auf der ukrainischen Seite Party gemacht hätten am Strand, als wäre nichts. Und das, während seine Dorfbewohner weniger Fische fingen, weniger Geld verdienten.
Die rumänische Regierung sollte lieber die eigenen Leute unterstützen als die Ukrainerinnen und Ukrainer. «Ich sage nicht, die Menschen drüben seien schuld, die können ja nichts für den Krieg, schuld sind die Wanzen in unserer Regierung.»
Mit seiner Unzufriedenheit ist der Bürgermeister nicht allein, man hört sie oft in Rumänien – sogar in den Gegenden, wo die Menschen sehen, was der Krieg im Nachbarland bedeutet.